Arbeitszeiterfassungspflicht gesetzlich ausgestalten - aber richtig, ohne falsche Kompromisse
Die Frage der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung beschäftigt Betriebs- und Personalräte wie auch Gerichte seit vielen Jahren. Der EuGH hat bereits in der CCOO-Entscheidung 2019 ein objektives, verlässliches und zugängliches System zur Erfassung der täglichen Arbeitszeiten aller Beschäftigten gefordert. Diese Entscheidung wurde allgemein zur Kenntnis genommen, ohne dass allzu viel passiert wäre. Vereinzelt haben Betriebsräte versucht, der Entscheidung doch Relevanz zu geben, indem sie ein Initiativrecht zur Einführung eines entsprechenden technischen Erfassungssystems geltend machten. Das Bundesarbeitsgericht hat in seiner Entscheidung vom 13.09.2022 (1 ABR 22/21) das Initiativrecht zwar verneint, gleichzeitig aber erklärt, dass ja eh schon eine gesetzliche Pflicht zur Arbeitszeiterfassung bestünde. Am 18.04.2023 hat das Bundesarbeitsministerium für Arbeit und Soziales den Gesetzesentwurf für eine Reform des Arbeitszeitgesetzes vorgelegt (Referentenentwurf mit Stand 27.03.23).
Der Arbeitskreis Arbeitsrecht der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e. V. begrüßt, dass das Bundesarbeitsministerium nun aktiv wird. Jedoch enthält der Entwurf für dringende Probleme der Praxis keine oder nur sehr unzureichende Lösungen. Weder wird die dringend erforderliche manipulationssichere Erfassung und Kontrolle der Arbeitszeiterfassung sichergestellt, noch wird die notwenige Verzahnung von öffentlichem Gesundheitsschutz mit den Entgeltansprüchen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer z.B. im Hinblick auf die Bezahlung von Überstunden vorgenommen.
Europarechtliche Vorgaben unzureichend berücksichtigt
Der Referentenentwurf eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitszeitgesetzes und anderer Vorschriften vom 27.03.2023 bleibt hinter den Vorgaben des EUGH zurück!
Das Urteil des EuGH (C-55/18-CCOO vom 14.05.2019) stellt folgende Punkte zur unbedingten Beachtung heraus:
- „Die Richtlinie 2003/88/EG über bestimmte Aspekte zur Arbeitszeitgestaltung ist im Lichte des Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auszulegen. Daraus ergibt sich, dass das Recht eines jeden Beschäftigten auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit und auf die tägliche und wöchentliche Ruhezeit ein europäisches Grundrecht darstellt und nicht nur eine Regel des Sozialrechts der europäischen Union ist.
- Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, die praktische Wirksamkeit dieser Rechte in vollem Umfang zu gewährleisten.“
- Die Mitgliedstaaten müssen also die Arbeitgeber dazu verpflichten, ein objektives, verlässliches und zugängliches System zur Erfassung der Arbeitszeiten einzurichten.
- Der Nachweis von Überstunden setzt voraus, dass die Dauer, der von dem jeweiligen Beschäftigten geleisteten täglichen Arbeitszeit bekannt ist und zuvor gemessen worden ist.
- Der wirksame Schutz der Sicherheit der Gesundheit der Beschäftigten darf rein wirtschaftlichen Überlegungen nicht untergeordnet werden (4. Erwägungsgrund der RL 2003/88/EG).
Zum Referentenentwurf im Einzelnen:
Die Zeiterfassung muss elektronisch manipulationssicher aufgezeichnet werden
(§ 16 Abs 2 ArbZG des Referentenentwurfs)
Nach dem Entwurf sollen Beginn, Ende und Dauer jeweils am Tag der Arbeitsleistung elektronisch aufgezeichnet werden.
Auf den ersten Blick erscheint damit der Entwurf zwar die Anforderungen der Richtlinie 2003/88/EG zu erfüllen und die Arbeitgeber zu verpflichten ein „objektives, verlässliches und zugängliches System zur Erfassung der Arbeitszeit einzurichten“.
Ein Blick in die Gesetzesbegründung zeigt jedoch, dass der bundesdeutsche Gesetzgeber hierunter etwas anderes versteht als der EuGH. Hier wird ausgeführt, dass dazu auch „die Nutzung herkömmlicher Tabellenkalkulationsprogramme in Betracht“ kommt. Das könnte man so lesen, dass nur verlangt wird, Zeiten in elektronischen Medien zu notieren, der eigentliche, vorgelagerte Erfassungsvorgang bliebe aber unbestimmt.
Damit setzt sich das BMAS nicht ausreichend mit dem Erfordernis der „objektiven“ Erfassung auseinander. Der EuGH macht dazu gründliche Ausführungen in seinem Urteil. Es gilt dem Grundrecht der Beschäftigten aus Art. 31 Abs. 2 der EU-Grundrechtecharta Geltung zur verschaffen und die „praktische Wirksamkeit“ dieser Rechte in vollem Umfang zu gewährleisten (Rn 42). Deshalb haben subjektive Faktoren bei der Arbeitszeitaufzeichnung möglichst zurückzutreten. Der EUGH betont zu Recht an mehreren Stellen seines Urteils die unterlegene Position der Beschäftigten gegenüber dem Arbeitgeber, die es ohne ein objektives System verhindert, seine Grundrechte zu gewährleisten.
Die Eintragung des Beginns und des Endes der gelisteten Arbeitszeit in ein Tabellenkalkulationsprogramm (z.B. Excel) erfüllt die Voraussetzungen der Objektivität nicht. Es unterscheidet sich nicht von der handschriftlichen Aufzeichnung in Tabellen. Die Realität sieht doch oftmals so aus, dass die Aufzeichnungen der Arbeitszeit durch die Beschäftigten den Wünschen der Vorgesetzten und des Arbeitgebers angepasst werden. Die Überschreitung der täglichen Höchstarbeitszeit „verschwindet“ durch die Anpassung des Endes der Arbeitszeit.
Zum Hintergrund: Im Jahr 2021 haben im Schnitt mindestens 4,5 Millionen Beschäftigte Überstunden geleistet. Davon wurden nach Schätzungen 22 % nicht bezahlt. Mehr als ein Viertel leistet mehr als 15 Überstunden pro Woche! Dabei werden die Überstunden, die nicht erfasst und gemessen wurden, nicht einmal berücksichtigt (Quelle Haufe Online Redaktion vom 12.2.2023 mit weiteren Quellenverweisen zu Daten des Statistischen Bundesamtes).
Unerklärlich ist auch, warum der Entwurf aus dem BMAS sich nicht an bereits bestehenden Regeln orientiert hat, wie etwa dem Gesetz zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft (GSA-Fleisch). Dort wird in § 6 Abs. 1 präziser eine Arbeitszeiterfassung gefordert, die „elektronisch und manipulationssicher“ ist.
Anforderungen für abweichende Regelungen durch Tarifverträge
Die in den Entwurf aufgenommene Öffnungsklausel in Tarifverträgen (§ 7 ArbeitsZG-Entwurf) ermöglicht darüber hinaus eine Vereinbarung, um Arbeitszeiten nicht elektronisch zu erfassen und nicht taggenau aufzuzeichnen. Wie dadurch die Objektivität der Aufzeichnung sichergestellt werden soll, führt das BMAS nicht aus. Auch eine wie auch immer zustande gekommene Einigung von Arbeitgebern und Gewerkschaften kann diesen Befund nicht in Frage stellen. Zudem wird damit der Eindruck erweckt, dass eine objektive Aufzeichnung der Arbeitszeit auch ohne elektronische Aufzeichnung möglich sein kann. Er verlagert die Verantwortung dafür auf die Tarifvertragsparteien. Aber auch diese haben die Erfordernisse der Richtlinie zu beachten, schließlich handelt es sich bei der Aufzeichnungspflicht um für alle Beteiligten gleichermaßen geltendes öffentliches Gefahrenabwehrrecht zur Durchsetzung des Gesundheitsschutzes, das auch nicht durch Tarifverträge konterkariert werden darf. Und das BAG postuliert im Einklang mit dem EuGH die Pflicht zur Einführung eines Systems der Arbeitszeiterfassung.
Ein objektives, verlässliches und zugängliches System zur Arbeitszeitauszeichnung muss revisionssicher und manipulationssicher sein. Das müsste auch durch tarifvertragliche Regelungen gewährleistet bleiben.
Wenn schon gewünscht wird, dass Tarifverträge Anpassungen an die betrieblichen Regelungen zur Arbeitszeiterfassung ermöglichen sollen, dann muss aber durch das Gesetz für solche Tarifverträge sichergestellt sein, dass jede Art von Anpassung nur unter der Voraussetzung erfolgen darf, dass die Tarifverträge den Anforderungen der Arbeitszeitrichtlinie bzw. der Rechtsprechung von EuGH und BAG genügen müssen.
Arbeitszeiterfassung aus einem Guss
Weitere Gesetze, die im Wesentlichen den Mindestlohn und Schwarzarbeitsbranchen betreffen, etwa aus dem MiLoG (§ 17 Abs. 1 MiLoG), dem AEntG (§ 19 Abs. 1) enthalten Vorschriften zur Arbeitszeiterfassung.
Sinnvoll wäre es, wenn der Entwurf aus dem BMAS sich an dem jüngsten Gesetz zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft (GSA-Fleisch) orientiert hätte. Dort wird in § 6 Abs. 1 präzise eine Arbeitszeiterfassung gefordert, die „elektronisch und manipulationssicher“ ist.
Zu fordern ist eine einheitliche gesetzliche Regelung zur manipulationssicheren Arbeitszeiterfassung für alle Branchen und Bereiche zu schaffen. Das würde die Betroffenen wirksam unterstützen, die gesetzlichen Regelungen in der Praxis auch tatsächlich umzusetzen. Der Verzicht auf eine einheitliche Regelung führt zu unterschiedlichen, ggbfs. widersprüchlichen Anforderungen. Eine solche Regelung und nicht etwa - die Erfassung an sich, ist zum einen „bürokratischer Unsinn“. zum anderen hilft es den täglichen Betrug mit der Unterdrückung tatsächlich abgeleisteter Arbeitszeiten fortzuführen.
Arbeitszeit muss überall transparent und manipulationssicher aufgezeichnet werden.
Fehlende Verzahnung mit Ansprüchen auf Entgelt für geleistete Arbeit
Der Entwurf will dem öffentlich-rechtlichen Arbeitsschutz dienen. Das ist ebenso überfällig wie richtig und notwendig. Das würde es aber keineswegs ausschließen, solche Regelungen mit den individualrechtlichen Ansprüchen auf Entgelt, Überstunden usw. zu verzahnen. Das fehlt im Referentenentwurf völlig!
Dies ist für die Praxis im Arbeitsleben unzureichend. Insbesondere eine gegenüber der jetzigen Praxis gebotene Beweislastumkehr zugunsten von Beschäftigten wäre dringend erforderlich. Einerseits zugunsten derer, die sich im Gehalts- bzw. Überstundenprozess auf die aufgezeichneten Zeiten berufen und andererseits zu Lasten derjenigen Arbeitgeber, die kein den Maßstäben von EuGH und BAG entsprechendes System der objektiven Arbeitszeiterfassung eingeführt haben.
Manipulationssicher erfasste Arbeitszeiten sind also als rechtssichere Grundlage für z.B. Überstunden- und Gehaltsprozesse zu definieren, Einwendungen hiergegen dürfen nur zulässig sein, wenn ein solches System vorhanden ist.
Der Gesetzentwurf des BMAS sieht in § 16 Abs. 5 eine Informationspflicht vor. Das alleine reicht nicht. Notwendig ist ein Anspruch der Beschäftigten auf kostenfreie Einsichtnahme / Aushändigung einer Kopie sowie auf Wunsch die Übersendung einer Kopie der Aufzeichnung. Zudem sollte die arbeitende Person selbst entscheiden können, ob sie diese Übersendung analog oder elektronisch möchte, da nicht überall – gerade in Branchen mit prekären Beschäftigungsverhältnissen – der Besitz elektronischer Medien selbstverständlich ist.
Die in § 16 Abs. 2 und 6 vorgeschlagene Aufbewahrungsfrist von zwei Jahren mag für den öffentlich-rechtlichen Schutz reichen. Angesichts flächendeckend fehlenden Personals in den Kontrollbehörden ist aber auch dieser Zeitraum zu kurz. Sinnvoll wäre es hier im Hinblick auf die Verzahnung mit individualrechtlichen Ansprüchen die Aufbewahrungsfrist auf (mindestens) drei Jahre festzulegen, wie dies der allgemeinen Verjährung nach § 195 BGB entspricht.
Keine Ausnahmen für einzelne Personengruppen
Der Entwurf geht auch in eine völlig falsche Richtung, wenn bestimmte Personengruppen aus der Arbeitszeiterfassung herausgenommen werden sollen. Diese in § 16 Abs. 7 des Entwurfs formulierte Option ist weder notwendig noch sinnvoll. Im Gegenteil: Arbeitsschutz und als dessen integraler Bestandteil der Schutz vor Überforderung durch überlange und/oder ungünstige Arbeitszeiten ist ein Grundrecht für alle ArbeitnehmerInnen.
Lange Übergangs- und Ausnahmeklauseln in § 16 Abs 8 ArbZG-Entwurf sind für den Gesundheitsschutz kontraproduktiv
Der Gesetzentwurf sieht nach Unternehmensgröße gestaffelte Übergangsregelungen für die Einführung elektronischer Arbeitszeiterfassungssysteme vor.
Generell sollen Arbeitgeber bis zu einem Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes die Arbeitszeit weiterhin auch handschriftlich aufzeichnen können. In Betrieben und Unternehmen mit weniger als 250 Beschäftigten gilt die Übergangsregelung zwei Jahre; bei weniger als 50 Beschäftigten fünf Jahre. Arbeitgeber mit bis zu zehn Beschäftigten sollen von der Pflicht zur elektronischen Aufzeichnung vollständig befreit sein. Diese Ausnahme gilt auch für Arbeitgeber ohne Betriebsstätte im Inland, die bis zu zehn Arbeitnehmer nach Deutschland entsenden.
Die großzügige Bemessung der Übergangsregelungen konterkarieren den Arbeitsschutzgedanken, der Grundlage der Entscheidung des EuGH ist. Und diese Entscheidung erging bereits 2019! Also ausreichend Zeit zu handeln.
Die Richtlinie 2003/88/EG gilt schon heute und das nicht erst seit gestern. Auch das BAG hat in seinem Beschluss vom 13.9.2022 ausdrücklich erwähnt, dass die Aufzeichnung der Arbeitszeit mit einem „objektiven, verlässlichen und zugänglichen System“ ab sofort umzusetzen ist.
Fazit
Fasst man die von der Rechtsprechung formulierten Argumente zusammen, ist für die Sicherstellung des gesetzlichen Arbeitsschutzes schon – und nicht erst in den nächsten Jahren - die Einrichtung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems zur Erfassung der individuellen Arbeitszeit unumgänglich.
Angesichts vieler auf dem Markt verfügbarer, auch in elektronischer Form verfügbarer „schlanker“ und kostengünstiger Arbeitszeiterfassungssysteme - etwa durch entsprechende einfach zu installierende Apps - werden auch kleine Betriebe durch einen Zwang zur Einführung dieser Systeme wirtschaftlich in keiner Weise überfordert. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass der Gesundheitsschutz nicht rein wirtschaftlichen Erwägungen untergeordnet werden darf (Erwägungsgrund 4 der Arbeitszeitrichtlinie). Das scheint der Gesetzgeber nicht nur bei der Festlegung der Übergangsfristen „vergessen“ zu haben.
Gesetzliche Regelungen dürfen nicht zur bloßen Disposition von Arbeitgebern oder auch Tarifvertragsparteien gestellt werden. Es braucht verbindliche, allgemein gültige und transparente Vorgaben. Dies ist der Auftrag an den Gesetzgeber. Dabei ist der oberste Grundsatz:
Gesundheitsschutz ist universell und entsprechend durchzusetzen!
Arbeitskreis Arbeitsrecht Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e.V.