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BVerfG beendet jahrzehntelange Diskriminierung von MigrantInnen

Mit seiner Entscheidung vom 18.07.2012 (1 BvL 10/ 10 und 2/11) zu den Vorlagebeschlüssen des LSG NRW vom 26.07.2010 (L 20 AY 13/09) und vom 22.11.2010 (L 20 AY 1/09) beendet das Bundesverfassungsgericht vorerst eine der massivsten Diskriminierungen von MigrantInnen in der Bundesrepublik Deutschland.

Rechtsanwalt Volker Gerloff aus Berlin analysiert die Entscheidung und stellt die Konsequenzen der Entscheidung für die aktuellen Bedarfssätze und Vorgaben für den Gesetzgeber dar.

von Volker Gerloff, Rechtsanwalt (Berlin)

Mit seiner Entscheidung vom 18.07.2012 (1 BvL 10/ 10 und 2/11) zu den Vorlagebeschlüssen des LSG NRW vom 26.07.2010 (L 20 AY 13/09) und vom 22.11.2010 (L 20 AY 1/09) beendet das Bundesverfassungsgericht vorerst eine der massivsten Diskriminierungen von MigrantInnen in der Bundesrepublik Deutschland.

Entscheidungshintergrund

Im Zuge des sog. Asylkompromisses und als Folge u.a. des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen, dessen Jahrestag sich in diesem Jahr zum 20. Mal jährt, wurde 1993 das AsylbLG eingeführt. Die Logik des Gesetzgebers war damals: Wenn Asylbewerberheime brennen, dann muss dafür gesorgt werden, dass es weniger AsylbewerberInnen gibt. Im Vergleich dazu war bspw. die Logik der Politik, als in Berlin viele Autos brannten nicht, dass die Autos verschwinden müssten... Letztlich ist das AsylbLG ein Baustein dessen, womit die Politik die Forderung des brandschatzenden Mobs „Ausländer raus“ umzusetzen versuchte.

Das Bundesverfassungsgericht hatte sich mit § 3 AsylbLG auseinanderzusetzen. Diese Norm besagt im Wesentlichen, dass ein einzelner Erwachsener einen Geldbetrag von 80,- DM nach § 3 Abs. 1 S. 4 Nr. 2 AsylbLG und daneben weitere Leistungen im Wert vom 360,- DM gem. § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 AsylbLG erhält. Seit 1993 wurden diese Beträge nicht angepasst. Es blieb sogar die Anpassung zum Euro im Gesetzestext aus. Der Regelsatz für einen AsylbLG-Betroffenen betrug daher (umgerechnet) 40,90 EUR plus 184,07 EUR also insgesamt  224,97 EUR.

Eine irgendwie geartete Kalkulation zu diesen festgesetzten Regelbedarfen gab und gibt es nicht. Da es sich um eine willkürliche Festsetzung der Regelsätze handelt und fiskalische und „einwanderungspolitische“ Erwägungen das Prinzip der Deckung des Lebensbedarfs verdrängten, kann hier nicht einmal von einer „Schätzung ins Blaue hinein“ gesprochen werden (vgl. Christian Armborst und Uwe Berlit in: info also, 4/2010, 181 f. mit Verweis auf: Kingreen, NVwZ 2010, 558, 562) – es lag vielmehr eine willkürliche, irrationale und repressive Sanktionierung vor. Das Bundesverfassungsgericht reagiert darauf sehr treffend: „Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierten Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“.

In der Praxis wurden vielen Betroffenen nicht einmal die mageren 224,97 EUR bewilligt. Da die meisten Betroffenen in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht wurden, wurde das Konstrukt aufgestellt, dass dort Bedarfe durch Sachleistungen gedeckt seien, die im Regelsatz des § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 AsylbLG enthalten seien. Diese Pauschalen variierten von Landkreis zu Landkreis erheblich, so dass auch hier die Betroffenen erneut der Willkür der Exekutive ausgesetzt waren. Der Abzug dieser Pauschalen kann sich schließlich auf keine Rechtsgrundlage stützen. Es müsste schließlich dargelegt werden, welche Bedarfsanteile durch welche Sachleistungen in der Gemeinschaftsunterkunft gedeckt sein sollen. Sodann wäre darzulegen, welche konkreten Bedarfsanteile des Regelsatzes aus § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 AsylbLG davon betroffen sein sollen. Da es aber keine Bedarfsberechnung zu diesem Regelsatz gibt, ist bereits deshalb ein Konstrukt, wie das der in Abzug gebrachten Pauschalen gesperrt.

Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Das Bundesverfassungsgericht hat nun festgestellt, dass der Regelsatz nach § 3 AsylbLG von insgesamt 224,97 EUR evident unzureichend für eine Existenzsicherung ist1). Es liegt ein Verstoß gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG vor 2).  Mit deutlichen Worten wird die Nichtanpassung der Leistungen seit 1993 gerügt und festgestellt, dass die Leistungshöhe zumindest seit 2007 offensichtlich nicht mehr den existenznotwendigen Bedarf decken konnte 3).

Für einen einzelnen Erwachsenen sollen ab dem 01.01.2011 folgende Bedarfe analog § 5 Abs. 1 RBEG gelten 4).

Leistungszeitraum 01.01.2011 bis 31.12.2012

Bedarf nach § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 AsylbLG:

Abteilung 1 (Nahrungsmittel, alkoholfreie Getränke) € 128,46
(Eine Abteilung 2 existiert in § 5 Abs. 1 RBEG nicht.)
Abteilung 3 (Bekleidung und Schuhe) € 30,40
Abteilung 4 (Wohnen, Energie und Wohnungsinstandhaltung) € 30,24
Abteilung 6 (Gesundheitspflege) € 15,55

Summe: € 204,65

Gerundet gem. § 28 Abs. 4 S. 5 SGB XII: € 205,00

Bedarf nach § 3 Abs. 1 S. 4 AsylbLG:

Abteilung 7 (Verkehr) € 22,78
Abteilung 8 (Nachrichtenübermittlung) € 31,96
Abteilung 9 (Freizeit, Unterhaltung, Kultur) € 39,96
Abteilung 10 (Bildung) € 1,39
Abteilung 11 (Beherbergungs- und Gaststättendienstleistungen) € 7,16
Abteilung 12 (andere Waren und Dienstleistungen) € 26,50

Summe: € 129,75

Gerundet gem. § 28 Abs. 4 S. 5 SGB XII: € 130,00

Gesamtbedarf: € 335,00

Leistungszeitraum ab 01.01.2012 (Steigerung um 1,99 % nach § 1 RBSFV)

Bedarf nach § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 AsylbLG: € 210,00
(Steigerung um 0,55 % nach § 7 Abs.2 RBEG enthalten)
Bedarf nach § 3 Abs. 1 S. 4 AsylbLG: € 133,00

Gesamtbedarf: € 343,00

Der Bedarf der Abteilung 5 (Innenausstattung, Haushaltsgeräte und -gegenstände) soll unberücksichtigt bleiben. Für Betroffene, die eine eigene Wohnung bewohnen, ist jedoch auch dieser Bedarf nach § 3 Abs. 2

S. 2 letzter Halbsatz AsylbLG anzuerkennen.

Leider fehlt eine klare Abkehr von dem diskriminierenden Gutscheinsystem. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hält für die Behörde – zumindest für die Übergangszeit bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber – die Möglichkeit offen, den Bedarf nach § 3 Abs. 2 S. 2 AsylbLG in Form von Sachleistungen zu gewähren. Ein Ausspruch des Bundesverfassungsgerichts, dass eine Gewährung von Gutscheinen nicht statthaft wäre, fehlt. Ein klarer Anspruch auf (Bar-)Geldleistungen besteht also nur i.H.v. 130 EUR (bzw. aktuell 133,00 EUR).

Da das Gutscheinsystem erhebliche Mehrkosten verursacht, bleibt zu hoffen, dass die betreffenden Behörden, dem Prinzip der Sparsamkeit folgend, die Gewährung von Gutscheinen auf Einzelfälle beschränken werden. Bisher galt leider in viel zu vielen Landkreisen der Grundsatz, dass Kosten bei der effektiven Diskriminierung von „Ausländern“ keine Rolle spielen.

Der Gesetzgeber wird verpflichtet, unverzüglich eine Neuregelung zu treffen. Die Hoffnung, dass das Bundesverfassungsgericht eine Unterscheidung bzgl. der Sozialleistungen zumindest für die Höhe des Regelsatzes (der schließlich eben die sich aus der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip ergebende Existenzsicherung gewährleisten soll) vollständig ablehnen würde, ist damit nicht erfüllt worden. Aber dem Gesetzgeber wurde unmissverständlich erklärt, dass eine Unterscheidung bzgl. der Höhe des Regelsatzes für bestimmte Personengruppen nicht pauschal aufgrund des Aufenthaltsstatus erfolgen darf. Letztlich wurde dem Gesetzgeber aufgegeben, wenn er bestimmte MigrantInnen weiter diskriminieren möchte, dann nach dem Vorbild der Regelbedarfsermittlung im SGB II/XII eine transparente und an den tatsächlichen Bedarfen der ausgesonderten Personengruppe ausgerichtete Bedarfsberechnung erstellt werden muss 5). Hier bleibt also abzuwarten, ob und ggf. welche Konstruktionen der Gesetzgeber präsentieren wird, um den Regelsatz für AsylbewerberInnen, Geduldete etc. nach unten zu korrigieren.

Wenn der Gesetzgeber beispielsweise an seiner bisherigen (offiziellen) Begründung für die Sonderbehandlung nach dem AsylbLG festhalten möchte, dass sich die Rechtfertigung daraus ergebe, dass sich die Betroffenen nur vorübergehend und für kurze Dauer in Deutschland aufhalten würden, gibt das Bundesverfassungsgericht ebenfalls klare Anweisungen. So muss der Gesetzgeber sicherstellen, dass die gesetzliche Umschreibung dieser Gruppe hinreichend zuverlässig tatsächlich nur diejenigen erfasst, die sich regelmäßig nur kurzfristig in Deutschland aufhalten 6). Das Wunschdenken des Gesetzgebers, dass sich Asylbewerber grundsätzlich immer nur kurzfristig in Deutschland aufhalten, darf also nicht genügen. Vielmehr muss aufgrund einer Prognose anhand der Umstände des Einzelfalls die voraussichtliche Dauer des Aufenthalts ermittelt werden. Diese Prognose darf nicht allein auf der Bewertung des Aufenthaltsstatus beruhen. Leider äußert sich das Bundesverfassungsgericht nicht dazu, welcher Zeitraum überhaupt als Kurzaufenthalt zu werten ist. Diese Frage wäre dann gegebenenfalls neu zu klären, wenn der Gesetzgeber tatsächlich ein neues AsylbLG schaffen würde.

Schließlich urteilt das Bundesverfassungsgericht, dass eine rückwirkende Überprüfung von bestandskräftigen Bewilligungsbescheiden nach § 44 SGB X für Leistungszeiträume bis Ende Juli 2012 nicht möglich sein soll. Die Anwendbarkeit des § 44 SGB X soll für diese Fälle gesperrt sein. Gleiches soll für die Rücknahme von Bewilligungsbescheiden nach § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB X gelten. Die Rückwirkung zum 01.01.2011 greift also nur bei noch nicht bestandskräftigen Leistungsbescheiden ein 7).

Das Bundesverfassungsgericht geht auch auf das Menschenrecht der Kinder auf Bildung ein. Wenn aber ein Bedarf für Bildung festgestellt wird, so muss sich daraus auch ein Anspruch auf Leistungen nach §§ 34 f. SGB XII analog ergeben 8).

Auswirkungen auf die Praxis

Zumindest ab August 2012 haben die Sozialämter von Amtswegen die höheren Leistungen zu bewilligen. Es steht jedoch zu befürchten, dass die Behörden, wie bisher auch, versuchen werden, durch den Abzug von Pauschalen die tatsächlichen Leistungen zu reduzieren.

Bezüglich der Bedarfe nach § 3 Abs. 1 S. 4 AsylbLG besteht kein Raum für den Abzug von Pauschalen. Der Abzug einer Pauschale für die Bedarfe bezüglich Innenausstattung, Haushaltsgeräte und -gegenstände, ist ebenfalls gesperrt, da diese Bedarfe nicht in den Regelleistungen nach § 3 Abs. 2 S. 2 AsylbLG enthalten sind. Damit bleibt allein Raum für den Abzug einer Pauschale bezüglich der Bedarfe für Wohnen, Energie und Wohnungsinstandhaltung. Der Bedarf für einen einzelnen Erwachsenen beträgt hier nach § 5 Abs. 1 (Abteilung 4) RBEG 30,24 EUR. Wenn dieser Bedarf tatsächlich durch Sachleistungen in der Gemeinschaftsunterkunft erbracht wird, dürfte gegen den Abzug dieser Pauschale nichts einzuwenden sein. Der Abzug weiterer Pauschalen müsste jedoch mit den entsprechenden Rechtsmitteln angegriffen werden.

Das bedeutet also für den typischen Fall eines einzelnen Erwachsenen in einer Gemeinschaftsunterkunft:

Leistungszeitraum 01.01.2011 bis 31.12.2012

Gesamtbedarf (wie oben): € 335,00
Abzgl. Abteilung 4 RBEG € 30,24

Bedarf: € 304,76

Gerundet gem. § 28 Abs. 4 S. 5 SGB XII: € 305,00

Leistungszeitraum ab 01.01.2012

Gesamtbedarf (wie oben) € 343,00
Abzgl. Abteilung 4 RBEG € 30,24

Bedarf: € 312,76

Gerundet gem. § 28 Abs. 4 S. 5 SGB XII: € 313,00

Denkbar wäre, dass Sozialämter den Bedarf für Gesundheitspflege (bei einem einzelnen Erwachsenen: 15,55 EUR) in Abzug bringen, da Leistungen bei Krankheit, Schwangerschaft und Geburt nach § 4 AsylbLG gesondert bewilligt werden. Hier ist jedoch zu berücksichtigen, dass das Bundesverfassungsgericht diesen Bedarf eindeutig unter § 3 Abs. 2 S. 2 AsylbLG subsumiert hat. Damit bleibt freilich kein Raum, für irgendeine Art der Verrechnung mit Leistungen nach § 4 AsylbLG. Gegebenenfalls müssen sich die Betroffenen jedoch darauf einstellen, dass bei der Bewilligung von Leistungen nach § 4 AsylbLG die entsprechenden Bedarfe der Gesundheitspflege nach § 3 Abs. 2 S. 2 AsylbLG unberücksichtigt bleiben werden, da sie bereits durch die Leistung nach § 3 Abs. 2 S. 2 AsylbLG erbracht sind. Die konkreten Bedarfe für einen einzelnen Erwachsenen stellen sich wie folgt dar:

Bedarf für Gesundheitspflege (einzelner Erwachsener):

Bedarf für pharmazeutische Erzeugnisse mit Rezept gekauft (nur Eigenanteile und Rezeptgebühren) € 3,47
pharmazeutische Erzeugnisse ohne Rezept gekauft € 5,07
andere medizinische Erzeugnisse mit Rezept gekauft
(nur Eigenanteile und Rezeptgebühren) € 0,67
andere medizinische Erzeugnisse ohne Rezept gekauft € 1,44
therapeutische Mittel und Geräte (einschließlich Eigenanteile) € 2,26
Praxisgebühren € 2,64

Summe € 15,55.

Ein Problem wird – zumindest vorläufig – auch die Gewährung der Leistungen nach § 3 Abs. 2 S. 2 AsylbLG in Form von Wertgutscheinen statt Bargeld bestehen bleiben. Klarzustellen ist dabei, dass Wertgutscheine keine Sachleistungen darstellen. Eine eindeutige Positionierung zu den bestehenden Gutscheinsystemen fehlt in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Insofern sollte hier gegenüber den Behörden weiter argumentiert werden, dass die Entscheidung für Gutscheine statt Bargeld einer Ermessensentscheidung im Einzelfall bedarf und somit begründet werden muss. Die übliche Floskel, dass sich der Gesetzgeber für den Vorrang des Sachleistungsprinzips entschlossen habe und die Gutscheine Sachleistungen näher stünden als Bargeld, sollte nicht hingenommen werden. § 3 Abs. 2 S. 1 AsylbLG sagt dazu: „Bei einer Unterbringung [außerhalb von Erstaufnahmeeinrichtungen] können, soweit es nach den Umständen erforderlich ist, anstelle von vorrangig zu gewährenden Sachleistungen […] Leistungen in Form von Wertgutscheinen, von anderen unbaren Abrechnungen oder von Geldleistungen im gleichen Wert gewährt werden“. Nach diesem Wortlaut bleibt kein Raum für eine Verneinung von einer Ermessensausübung bzgl. der Auswahl der Mittel. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die Gewährung von Gutscheinen das Grundrecht auf Existenzsicherung mehr beeinträchtigt, als die Gewährung von Bargeld. Gutscheine sind zudem in der Regel nur am Ort des Wohnsitzes einlösbar und gelten nur für Lebensmittel. Durch die eindeutige „Heraufstufung“ der Betroffenen in die „Kategorie Mensch“ und damit die Anerkennung aller Bedarfe nach dem RBEG, müssen aber zumindest die Gutscheine für all diese Bedarfe gelten. Bloße Lebensmittelgutscheine für den örtlichen Supermarkt (nicht selten der am weitesten vom „Asylheim“ entfernte) genügen nicht mehr! Letztlich lässt sich das Gutscheinsystem nicht mehr aufrechterhalten, ohne noch höhere Kosten zur Aufrechterhaltung zu produzieren. Sollten einzelne Landkreise dennoch am Gutscheinsystem festhalten, muss dagegen vorgegangen werden. Es darf schließlich nicht zur Gewohnheit werden, dass untragbare Zustände über Jahrzehnte – auch von der Anwaltschaft – geduldet werden.

Für sämtliche anhängige Widerspruchs- und Klageverfahren gegen Bewilligungsbescheide bezüglich Leistungszeiträumen ab dem 01.01.2011 ist mit entsprechenden Anerkenntnissen der Behörde bzw. Beklagten zu rechnen. Das Bundesverfassungsgericht merkt zudem abschließend an, dass die Verfassungswidrigkeit des § 3 AsylbLG bei den entsprechenden Kostenentscheidungen zu Gunsten der Kläger angemessen zu berücksichtigen ist.

Armutszeugnis für Gesetzgeber und Sozialgerichtsbarkeit

Dass es der Gesetzgeber seit 1993 bei unterschiedlichen politischen Ausrichtungen in den Regierungen nicht vermochte, allen in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Menschen ein menschenwürdiges Leben zu verschaffen, ist beschämend und ein Armutszeugnis für nahezu alle politischen Parteien.

Seitens der Sozialgerichtsbarkeit gab es eine klare Positionierung zur Fragwürdigkeit der Leistungen nach § 3 AsylbLG leider nur bei den Landessozialgerichten der Länder Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg und bei vereinzelten erstinstanzlichen Sozialgerichten. Insbesondere die Sozialgerichte in Berlin und Brandenburg zeigten sich als letzte Verfechter des offensichtlich verfassungswidrigen § 3 AsylbLG. In der Regel wurden Rechtsmittel mit Bezug auf die Verfassungswidrigkeit der Regelbedarfe nach dem AsylbLG mehr oder weniger empört durch die Sozialgerichte zurückgewiesen. Eine echte Auseinandersetzung mit der Rechtsmaterie fand selbst dann nicht statt, als bereits die nun durch das Bundesverfassungsgericht entschiedenen Vorlagebeschlüsse bekannt waren und selbst die Bundesregierung erklärt hatte, dass das AsylbLG so nicht zu halten sei. So stellte bspw. das Sozialgericht Potsdam in einem Urteil vom 19.04.2012 (S 20 AY 2/11) noch fest, dass es nicht im Ansatz erkennbar sei, warum ein bewilligter Regelsatz i.H.v. 158,50 EUR (Leistungskürzung nach § 1a AsylbLG bei krankheitsbedingt ausreiseunfähigem Betroffenen mit Duldung) das menschenwürdige Existenzminimum evident nicht gewährleisten sollte. Dem stehen nun endlich die klaren Worte des Bundesverfassungsgerichts entgegen.

Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten für die Sozialgerichtsbarkeit, mit der Situation umzugehen, dass eine streitentscheidende Rechtsfrage vor dem Bundesverfassungsgericht anhängig ist und auch in absehbarer Zeit entschieden werden wird. Wenn das Sozialgericht oder das Landessozialgericht schon keine Vorlage zum Bundesverfassungsgericht anfertigen möchte, so wäre zumindest das Hinwirken auf ein Ruhen des Verfahrens mit Hinweis auf die zu erwartende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts möglich. Stattdessen haben die Sozialgerichte und Landessozialgerichte (zumindest in Berlin und Brandenburg) mehrheitlich ohne Not ein klares Bekenntnis zu § 3 AsylbLG abgelegt, der nun als offensichtlich verfassungswidrig gebrandmarkt wurde. Der 18. Senat des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg scheute sogar nicht davor zurück, einem griechischen Staatsangehörigen vorläufige Leistungen analog § 3 AsylbLG zuzusprechen (Beschluss vom 10.05.2012 – L 18 AS 1013/12 B ER). Abgesehen davon, dass das Gericht eine Prüfung des einschlägigen Europäischen Fürsorgeabkommens verweigerte, kam es zu dem Schluss, dass eine Folgenabwägung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren die Bewilligung von Leistungen zur Existenzsicherung erforderlich macht. Die existenzsichernde Höhe der Leistungen ergebe sich dabei aus § 3 AsylbLG, so dass dem griechischen Alg-II-Berechtigten ernsthaft monatlich 225 EUR zugesprochen wurden. Deutlicher kann ein fehlendes Problembewusstsein kaum zum Ausdruck kommen.

Fazit

Mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist der ständige Kampf gegen bestehende Sondergesetze für MigrantInnen einen kleinen Schritt vorangekommen. Es bleibt zu hoffen, dass der Gesetzgeber nach jahrelang anhaltender verfassungswidriger Diskriminierung nun endlich von dem System des AsylbLG in Gänze Abstand nimmt. Die Hoffnung bleibt, dass der Begriff „Mensch“ in der Menschenwürde nicht weiter nach aufenthaltsrechtlichen Kriterien in „Menschen 1. Klasse“ und „Menschen 2. Klasse“ unterteilt wird.

Sollte sich der Gesetzgeber dazu nicht durchdringen können, so gilt es, gegen das zu erwartende Folgegesetz mit aller Entschiedenheit vorzugehen. Gleiches gilt freilich für sämtliche noch bestehenden Sondergesetze mit rassistischem Grundcharakter!

1) Leitsatz Ziff. 1 des Urteils

2) Urteilstenor Ziff. 1

3) Rn 109 ff. des Urteils

4) Urteilstenor Ziff. 2

5) Rn 99 des Urteils

6) Rn 101 des Urteils

7) Urteilstenor Ziff 2a) und e)

8) Rn 122 des Urteils


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