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Mitteilung

Dankrede des Preisträgers Dr. Rolf Gössner

Foto: © ursa

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen, meine Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde! Zunächst möchte ich dem Vorstand der VDJ ganz herzlich für die Verleihung des Hans-Litten-Preises danken, für die Unterstützung und das Vertrauen, das Sie damit in mich und meine Bürgerrechtsarbeit setzen. Das freut mich wirklich sehr – gerade in Zeiten wie diesen.

Auch bei Rupert von Plottnitz möchte ich mich herzlich bedanken – für die anerkennenden Worte eines Laudators, dessen bürgerrechtsorientierte Arbeit mitsamt seinem wechselvollen Lebensweg ich zu schätzen weiß.

(1) Lassen Sie mich gleich zu Beginn meiner Erwiderung klarstellen, dass ich im Laufe meines Berufs- und Arbeitslebens lediglich gemacht habe, was ich für richtig, wichtig und notwendig hielt und was ich auf unterschiedlichen Wegen, so gut es geht, auch heute noch versuche. Nun, dass es auch dafür Preise und Ehrungen gibt, habe ich erst in späteren Jahren erfahren und erlebe es nun heute wieder. Dabei habe ich doch nur versucht, mein Immunsystem gegen zumeist staatliche Angriffe auf Grund- und Freiheitsrechte durch die Jahrzehnte hinweg so gut wie möglich aktiv zu halten – weshalb ich mich in diesem Frühjahr auch dem Corona-Komplex stellte, indem ich mich so nüchtern und abwägend wie möglich in die kontroverse, hoch emotionale und moralisch aufgeladene Debatte um den Corona-Aus­nahmezu­stand und die anschließenden „Lockerungen“ einer sogenannten „neuen Normalität“ eingemischt habe. Ich komme später darauf zurück.

(2) Diese publizistische Intervention blieb im Übrigen nicht ohne heftige Reaktionen wie überhaupt meine Arbeit schon früher mitunter von erheblichen Widerständen und Konfrontatio­nen begleitet war – zumeist von staatlicher Seite: Es waren recht mühsame Jahrzehnte des Aneck­ens und Überwachtwerdens, der Kontakt­schuld-Vorwürfe und Ge­sin­nungs­über­prüfungen, es gab massive Drohungen, wie etwa nach Erscheinen mei­nes ersten, mit Uwe Herzog verfassten Buches „Der Apparat. Ermitt­lungen in Sachen Polizei“, Festnahme, Spießrutenlauf und Polizei­prügel als damaliger „taz“-Jour­nalist bei der öffentlichen Rekrutenverei­digung in Bremen, Veranstaltungsverbo­te an Universitäten, weitere Eingriffe in die Lehr- und Meinungsfreiheit oder Eintrag in einer Nazi-Liste als „Volksverräter“ – und dann aus solchen Erfahrungen resultierend: das Problem mit der Schere im Kopf aus Angst vor den Folgen der eigenen Arbeit.

Jahr­zehntelang gegen den Strom schwimmen im Hardcore-Seg­ment „In­nere Sicherheit“ mit der Aufde­ckung von Skandalen, Missständen und Fehlentwicklungen, mit harter Poli­zei-, Geheimdienst- und Staats­­kritik – das war, ich gestehe es, ganz schön anstrengend und nur mit einer gehörigen Portion Humor und Gelassenheit zu ertragen. Dennoch: alles noch relativ überschaubar und letztlich ohne bleibende Schäden. Einige selbst erlebte staat­liche Übergriffe konnte ich für meine weitere Bürgerrechtsarbeit auch noch bestens nutzen: praktisch als anschau­liche Lehr­stücke in Staatskunde, in Sachen Demokratie und Bürgerrechte.

(3) Ja, und spätestens hier werden dann doch die gehörigen Unterschiede zu Leben und Schicksal von Hans Litten, dem Namensgeber dieses Preises für demokratisches Engagement, deutlich, an den in diesem Zusammenhang erinnert werden soll. Ich fühle mich geehrt, diesen Preis mit seinem Namen empfangen zu dürfen. Doch seinem Vorbild und seinem Mut kann man, kann ich nicht wirklich gerecht werden – übrigens: auch nicht dem mancher früherer Preisträger:innen. Schließlich macht es doch einen entschei­denden Unterschied, wo und in welchen Zeiten das auszeichnungswürdige juristische Wirken entsprechend der VDJ-Krite­rien stattfindet, die da lauten: „kom­promisslos dem Recht ver­pflich­tet“, der „Kon­fronta­tion mit den politischen Macht­in­teressen und ih­ren Insti­tutio­nen nicht auswei­chend“, „in besonders ho­hem Maße durch demo­kra­tisches und rechts­politisches Engage­ment gekenn­zeich­net“.

(4) Hans Litten riskierte in seiner Zeit unendlich viel und musste sein juristisches, sein anwaltliches Engagement mit dem Leben bezahlen. Hans Litten gilt als einer der bedeutend­sten Anwälte der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik; er war ein mutiger antifaschistischer Rechtsanwalt und Strafverteidiger, vertrat und verteidigte widerständige Arbeiter, Opfer von Polizeiübergriffen und Nazigewalt und notleidende Arbeiterfamilien. In einem Strafprozess 1931, in dem er von einem SA-Rollkoman­do verletzte Arbeiter als Neben­kläger vertrat, trieb er Adolf Hitler in die Enge, dessen Anhörung als Zeuge er durchgesetzt hatte. Schon kurz nach NS-Machtergreifung und Reichstagsbrand 1933 wurde Litten interniert, in mehrere Konzentrationslager deportiert – zuletzt nach Dachau, wo er nach fünfjähriger Haft den Misshandlungen der Nazischergen erlag und systematisch in den Suizid getrieben wurde. Er starb vor 82 Jahren, 1938, gerade mal 34 Jahre jung.

I. Zeiten- und Themenwechsel: Nach diesen Anmerkungen zum Hans-Litten-Preis möchte ich mich heute anlässlich dieser Verleihung auf zwei Schwerpunkt-Themen konzentrieren: „Grundrechte in Zeiten von Corona“, wie bereits erwähnt. Zuvor aber schauen wir gemeinsam in geheime Abgründe und beginnen mit der Preisverleiherin – der VDJ.

(1) Uns verbindet nicht nur die fruchtbare Kooperation in Projekten wie dem „Grundrechte-Re­port. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland“. Uns verbinden nicht allein menschenrechtliche, soziale, demokratische und antifaschistische Grund­überzeugungen – noch etwas anderes verbindet uns: Es sind dies unsere gemeinsamen Erfahrungen mit einer geheimen staatlichen Institution, die auf den euphemistischen Tarnnamen „Verfassungsschutz“ (VS) hört. Denn beide, sowohl VDJ als Organisation als auch ich als Individuum, waren jahre- und jahrzehntelang im Visier dieses Inlandsgeheimdienstes.

Die VDJ galt ihm seit ihrer Gründung in den 1970er Jahren als verfassungsfeindliche Organisation, die sich, derart stigmatisiert, bis etwa Ende der 1980er Jahre in VS-Berichten wiederfand. Wohl aus dem schlichten Grund, weil sie die einzige juristische Organisation war, wie Norman Paech kürzlich schrieb, „in der auch Kommunisten sich organisieren konnten“. Und noch vor acht Jahren (2012) war sie etwa im Freistaat Thüringen in einem Regierungserlass zusammen mit vielen anderen Vereinigungen als „linksextremistisch beeinflusst“ gelistet. So konnten Bewerber:innen für den Staatsdienst allein wegen ihrer VDJ-Mitglied­schaft und somit wegen Zweifeln an ihrer Verfassungstreue abgelehnt werden. Erst als die VDJ verwaltungsgerichtliche Klage angedroht hatte, ist sie aus der Liste gestrichen worden.

(2) Meine eigene „Verfassungsschutz“-Geschichte, auf die ich nun eingehen möchte, hat leider bis heute kein Ende gefunden. Seit 1970 bin ich vier Jahrzehnte lang vom Bundesamt für Verfassungsschutz be­obachtet und ausgeforscht worden – schon als Jurastudent und seitdem ein Arbeitsleben lang in all meinen beruflichen und ehrenamtlichen Funktionen als Publizist, Rechts­anwalt, parlamentarischer Berater, später auch als Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte, seit 2007 zudem als Stellvertretender Richter am Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen.

Diese Langzeitüberwachung betrifft also den Großteil meines bewussten Lebens – beziehungsweise das, was der „Verfassungsschutz“ mit seiner selektiven Wahrnehmung aus diesem Leben gemacht hat: Er zeichnet in Schriftsätzen und Personenakte mit über 2.000 Seiten ein aus zeitgeschichtlichen Zusammenhängen herausgerissenes Bild und konstru­iert ab­struse Anschuldigungen. Heraus kommt ein denunziatorisches Feind- und Zerrbild, in dem ich mich nicht wieder erkenne und vor dem ich, auf den ersten Blick zumindest, selbst erschrecken würde. Der Dienst hatte sich mit seiner obsessiven Gesinnungskontrolle und seiner amtlichen Interpretation, oder besser: Fehlinterpretation, gewissermaßen meines politischen Lebens, meiner beruflichen und sozialen Kontakte bemächtigt.

So werden mir etwa berufliche Kontakte zu angeblich „linksextremistischen“ und „linksextremistisch beeinflussten“ Gruppen und Veranstaltern, wie etwa der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ (VVN), zur Last gelegt, die ich anwaltlich vertrat oder bei denen ich referierte, aber auch zu angeblich „linksextremen“ Presseorganen, wie etwa der „Jungen Welt“, in denen ich – neben vielen anderen Medien – veröffentlichte oder denen ich Interviews gab. Aus völlig legalen und legitimen Berufskontakten wurden praktisch eine ‚Kontaktschuld’ und angebliche Unterstützungseffekte konstruiert.

Später hat der „Verfassungsschutz“ auch Inhalte meiner Schriften – Bücher, Artikel, Interviews – einem Extremismusverdacht aussetzt und unter anderem folgendes behauptet: Mit meiner Staats-, Polizei- und Geheimdienst-Kritik sowie mit meiner „Agitation gegen Berufsverbote“ würde ich die bundesdeutschen Sicherheitsorgane diffamieren und wolle so den Staat wehrlos machen gegen seine inneren Feinde. Der VS maßt sich also auch eine Deutungshoheit über meine Texte an und übt sie in geradezu inquisitorischer Weise aus. Meine Maxime lautet demgegenüber: Bürger- und Menschenrechtsarbeit ist ohne Staats- und Gesellschaftskritik nicht denkbar!

Besondere Probleme bereitete mir diese geheimdienstliche Kontrolle vor allem beim Umgang mit Mandanten und mit Informanten, denn unter Be­obachtungsbedingungen gibt es keine Berufsgeheimnisse, keine Vertraulichkeit mehr. Um als Publizist meine Informanten und Whistleblower im Zuge meiner oft heiklen Recherchen im Bereich Innerer Sicherheit dennoch so gut wie möglich zu schützen, bedurfte es aufwändiger Klimmzüge. In Einzelfällen mussten Kontakte unterbleiben oder abgebrochen werden. Das gilt auch für meine Anwalts-, Parlaments- und Menschenrechtsarbeit. Berufsgeheimnisse wie Mandatsgeheimnis und Informantenschutz waren jedenfalls so nicht mehr durchgängig zu gewährleisten, meine Berufsfreiheit und berufliche Praxis damit mehr als beeinträchtigt.

Gegen diese geheimdienstliche Überwachung habe ich geklagt wegen Verletzung meiner Grundrechte auf Meinungs-, Presse- und Berufsfreiheit sowie auf informationelle Selbstbestimmung. Nach einem über fünfjährigen Prozess, in dessen Verlauf die Überwachung eingestellt wurde, erklärte das Verwaltungsgericht Köln diese Langzeitausforschung 2011 für unverhältnismäßig und grundrechtswidrig. Doch die Bundesregierung legte dagegen Berufung ein. Nach weiteren sieben Jahren erklärte das Oberverwaltungsgericht NRW 2018 die gesamte Beobachtung ebenfalls für grundrechtswidrig – prompt hat die Bundesregierung Revision gegen das Urteil eingelegt. Das heißt: Das Verfahren hängt nun nach fast 40 Jahren Überwachung und über 15 Jahren Verfahrensdauer, also nach weit über einem halben Jahrhundert, beim Bundesverwaltungsgericht in Leipzig – Ausgang und Ende ungewiss. Da kann bis zur endgültigen Klärung noch reichlich Zeit vergehen. Eigentlich ein Fall für den Bundesrechnungshof – wegen Verschwendung öffentlicher Gelder.

Ich empfand es übrigens mehr als schockierend, mit welcher ideologischen Verbissenheit und Ausdauer dieser Inlandsgeheimdienst – neben vielen anderen linken Gruppen und Antifaschisten – mich und mein bürgerrechtliches Engagement jahrzehntelang be­obachtet hatte – während sich zeitgleich auf der anderen Seite Neonazis, rechte Gewalt und Terror fast unbehelligt – teils über ein unkontrollierbares V-Leute-System staatlich „betreut“ – entwickeln und ihre Blutspur durch die Republik ziehen konnten: mit insgesamt mehr als 200 Toten allein seit 1990.

Und längst haben sich auch in Polizei, Bundeswehr und Geheimdiensten rechtsextreme Chat­gruppen und Nazi-Netz­werke entwickelt, aus denen heraus Menschen massiv bedroht werden – ausgerechnet innerhalb der bewaffneten Sicherheitsorgane des staatlichen Gewaltmonopols. Eine skandalöse und hoch gefährliche Entwicklung, die dem „Verfassungsschutz“ als „Frühwarnsystem“, das er eigentlich sein soll, mal wieder völlig entgangen ist – so wie schon im Fall des NSU-Komplexes. All dies gehört endlich unabhängig und schonungslos aufgearbeitet, um daraus geeignete strukturelle Konsequenzen zu ziehen. Und dazu gehören u.a.: Maßnahmen gegen institutionellen Rassismus, gegen Racial Profiling, „Cop Culture“ und Korpsgeist sowie die Einrichtung unabhängiger Kontroll- und Beschwerdestellen, was Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen wie Amnesty International oder VDJ aus guten Gründen schon seit Jahren fordern.

Auch der skandalgeneigte „Verfassungsschutz“ darf bei dieser dringend nötigen Strukturveränderung nicht ungeschoren davon kommen. Denn letztlich handelt es sich bei diesen Inlandsgeheimdiensten in Bund und Ländern um Fremdkörper in der Demokratie, für die die demokratischen Prinzipien der Transparenz und Kontrollierbarkeit nur sehr eingeschränkt gelten. Zugespitzt formuliert: Hier endet der demokratische Sektor, wie sich so häufig zeigt. Schon deshalb gehört der „Verfassungsschutz“ in Bund und Ländern sozialverträglich aufgelöst – gerade in seiner Ausprägung als Geheimdienst, gerade wegen seines unkontrollierbaren V-Leute- und systembedingten Verdunkelungssy­stems. Voll im Einklang mit Grundgesetz und Landesverfassungen, denn danach muss der ‚Verfassungsschutz’ keineswegs als Geheimdienst ausgestaltet sein.

II. Szenenwechsel: Gedanken und Thesen zum Corona-Ausnahme­zu­stand, zu „neuer Normalität“ und den Folgen

So, und jetzt verlassen wir die geheimen Gefilde und wagen uns auf ziemlich vermintes Gelände: Wie bereits angekündigt möchte ich noch auf das Thema "Menschenrechte und Demokratie im Ausnahmezustand und in der sog. „neuen Normalität“ eingehen. Ich habe mich im Frühjahr sehr schwer getan, mich in diese Problematik einzumischen, Corona-Abwehr­maßnah­men bürgerrechtlich zu hinterfragen und öffentlich Kritik zu üben – und zwar wegen der durchaus realen Befürchtung, am Ende als „Corona-Verharmloser“ dazustehen, als unsolidarischer „Grundrechtsfreak“ oder verantwortungsloser Freiheitsapostel. Geht es doch bei Corona, wie es immer wieder heißt, um nicht weniger als um „Leben und Tod“. Der moralische Druck und die Angst waren jedenfalls immens und wurden von Regierungsseite und massenmedial regelrecht forciert. Und so kam es, dass die übergroße Mehrheit der Bevölkerung den Lockdown und die ergriffenen Abwehrmaßnahmen als „alternativlos“ akzeptierten, dass viele Menschen, Verbände und auch die parlamentarische Opposition, einschließlich Linke und Grüne, allzu lange den Regierungskurs weitgehend mit getragen haben. Sie haben sich aus unterschiedlichen Grün­den mit ihrer Kritik zu­rückge­hal­ten und selbst mutmaßlich unverhältnismäßige Grundrechts­eingriffe nicht oder nur zögerlich hinterfragt – trotz mitunter widersprüchlicher und willkürlicher Maß­nahmen, trotz anfänglicher verfassungswidriger Aushebelung der Versammlungsfreiheit, trotz Gesetzesverschärfungen im Eiltempo und ohne Expertenanhörung, trotz weiterer Verschiebung des politischen Machtgefüges zugun­sten der Exekutive, trotz weiterer Entmachtung des Parlaments.

(1) Angesichts solcher Zurückhaltung oder auch Konfliktscheu fühlte ich mich regelrecht gedrängt, mit meinen skeptischen Gedanken und zuspitzenden Thesen zum alptraumhaften Corona-Aus­nah­mezu­stand und zur „neuen Normalität“ dazu beizutragen, in dieser bedrückenden Zeit großer Unsicherheit bürgerrechtliche Orientierung zu bie­ten für eine offene, für eine kritische und kontroverse Debatte. Denn auch die gesellschaftliche Debatte hat – nicht zuletzt in den Medien – allzu lange unter Angst, Einseitigkeit und Konformitätsdruck gelitten, auch unter Diffamierung und Ausgrenzung. Diskussionskultur und Meinungsvielfalt haben in der Corona-Krise jedenfalls gehörig gelitten und sie leiden noch immer - auch wenn Zweifel, Kritik und Gegenstimmen längst lauter geworden sind, sich aber mitunter auch skurril bis gefährlich verirren.

Bei so viel immunschwächender, leicht manipulierbarer Angst und selten erlebter Eintracht waren und sind jedoch Skepsis und kritisch-konstruk­tives Hinterfragen vermeintlicher Gewissheiten und exekutiv-autoritärer Verordnungen, die unser aller Leben stark durchdringen, nicht nur angezeigt, sondern dringend geboten – ebenso wie die Überprüfung harter Grundrechtseingriffe auf Verhältnis- und Verfassungsmäßigkeit. Schließlich kennzeich­net das eine lebendige Demokratie – nicht nur in Schönwetter­zeiten, sondern gerade in Zeiten großer Unsicherheit und Gefahren, die nicht nur aus einer, sondern aus unterschiedlichen Richtungen lauern, gerade in Zeiten, die nicht nur die Gegenwart, sondern in besonderem Maße auch unsere Zukunft schwer belasten. In solchen Zeiten sind vor allem auch demokratische Juristinnen und Juristen besonders gefordert.

(2) Denn das Corona-Virus gefährdet ja nicht allein Gesundheit und Leben von Menschen, sondern schädigt auch elementare Grund- und Freiheitsrechte, Rechtsstaat und Demokratie – „dank“ jener gravierenden Corona-Abwehrmaßnahmen, die dem erklärten und wichtigen Ziel dienen sollen, das Gesundheitssy­stem vor dem Kollaps zu bewahren sowie Gesundheit und Leben zu schützen. Abwehrmaßnahmen, die jedoch gleichzeitig – wie noch nie seit Bestehen der Bundesrepublik – tief in das alltägliche Leben aller Menschen eingreifen, die dabei schwerwiegende individuelle, familiäre, schulische, berufliche, gesellschaft­liche, kulturelle und wirtschaftliche Schäden und dramatische Langzeitfolgen verursachen, deren Ausmaß der Bundesrepublik Deutschland, ihrer Gesellschaft und ihren Bewohner:innen noch lange schwer zu schaffen machen wird. Es war der Historiker René Schlott, der davor warnte, auf diese Weise die „offene Gesellschaft zu erwürgen, um sie zu retten".

(3) Es ist hierzulande mit sinnvollen Schutzregeln zwar vieles richtig gemacht worden, aber leider auch manches falsch, zu wenig differenziert und nicht verhältnismäßig. Es gibt begründete Zweifel an der Angemessenheit mancher der panikartig und pauschal verhängten Lockdown-Maßnahmen auf ungesicherter Datengrundlage. Mit regionalem, lokalem und zielgruppenorientiertem, dennoch verantwortbarem Vorgehen hätten wohl viele Schäden, hätte viel persönliches Elend verhindert werden können.

Auch die Justiz, die anfänglich die exekutiven Freiheitsbeschränkungen kaum infrage stellte, hat mittlerweile in fünfzig und mehr Fällen staatliche Corona-Maßnahmen wegen Rechts- oder Verfassungswidrigkeit aufgehoben. Allein das müsste doch zu denken geben. Die Gerichte mahnen mit Blick auf die jeweils aktuelle Corona-Infektionslage – die im Übrigen ebenfalls differenzierter als bislang beurteilt werden müsste – immer häufiger eine differenziertere Betrachtung und Behandlung des Einzelfalls an. Das gilt auch für Zeiten erhöhter Infektionszahlen, wie wir sie gegenwärtig erleben. Ich denke dabei nur an die fragwürdigen neueren Beherbergungsverbote und Quarantäne-Auflagen für Reisende aus inländischen Risikogebieten.

(4) Bei all dem sollte doch Berücksichtigung finden, was zeitweise in Vergessenheit geraten ist: Auch soziale Verwerfungen und gesundheitliche Folgen, die durch die Restriktionen unseres täglichen Lebens verursacht werden, müssen in eine verfassungsrechtlich gebotene Abwägung zwischen Freiheitsrechten, Gesundheit und Leben einbezogen werden. Denn das Grundgesetz kennt kein „Su­pergrund­recht Gesundheit“, das alle anderen Grundrechte in den Schatten stellt, genauso wenig wie ein „Supergrundrecht Sicherheit“. Auch die (Über-)Lebenschan­cen (in) einer Gesellschaft, insbesondere auch für sozial benachteiligte Menschen und Gruppen sind bei Rechtsgüter-Ab­wägungen angemessen zu berücksichtigen. Gesundheits­schutz und Freiheitsrechte dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, Menschenleben nicht gegen Menschenrechte.

(5) Und noch ein Warnhinweis für die Zukunft: Der Ausnahmezustand im modernen Präventionsstaat, wie er sich hierzulande längst entwickelt hat, tendiert dazu, auch nach erfolgter Krisenbewältigung zum rechtlichen Normalzustand zu mutieren; dies kann zu einer gefährlichen Beschleunigung des längst eingeschlagenen Kurses in Richtung eines präventiv-autoritären Sicherheits-, Kontroll- und Überwachungsstaats führen. Das hat sich nach 9/11 deutlich gezeigt. Deshalb ist schon jetzt höch­ste Wachsamkeit geboten, damit sich der neue gesundheitspolitische Ausnahmezustand nicht allmählich normalisiert – schließlich ist längst die Rede von „neuer Normalität“ auf unbestimmt lange Zeit; und es ist schon jetzt höch­ste Wachsamkeit geboten, damit die längst zu verzeichnende autoritäre Wende sich nicht verfestigt – mit einem paternalistischen Staat, einer restriktiven und überregulierten Gesellschaft sowie einem stark kontrollierten und verkrampften Alltag.

(6) Im Übrigen plädiere ich für die Einrichtung unabhängiger interdisziplinärer Kommis­sionen in Bund und Ländern. Deren Aufgabe sollte es sein, die Politik in der „Corona-Krise“ kritisch zu begleiten sowie Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit staatlicher Abwehrmaßnahmen und ihre sozialen, psychischen und wirtschaftlichen Folgen zu evaluieren. Aus den so gewonnenen Erkenntnissen ließen sich dann Lehren ziehen für eine differenziertere und damit verhältnismäßige Bewältigung der weiteren Corona-Entwicklung und künftiger Epidemien.

Doch es muss darüber hinaus auch darum gehen, Perspektiven für überfällige gesellschaftliche, gesundheitspolitische, sozioökonomische, ökologische und friedenspolitische Strukturveränderungen zu entwickeln und umzusetzen – in Richtung Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Klimaschutz, Abrüstung und Frieden, kurz: für eine gerechtere und zukunftsfähige Gesellschaft.

Ja, es gäbe zu diesen hier nur angerissenen Problemkreisen noch so viel mehr zu sagen. Doch leider ist mein Zeitbudget längst ausgeschöpft. Deshalb verweise ich mal auf eine soeben erschienene Broschüre mit dem Titel „Menschenrechte und Demokratie im Ausnahmezustand“, in der vieles dazu nachzulesen ist. Es ist die erweiterte und aktualisierte Langfassung meiner >Gedanken und Thesen zum Corona-Lockdown, zur ‚neuen Normalität’ und den Folgen< – dankenswerterweise herausgegeben von der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen und erschienen im Verlag Ossietzky. Eine produktive Kooperation, für die ich mich sehr bedanke (s. Info weiter unten).

Zum Abschluss möchte ich nochmals der VDJ, Rupert von Plottnitz und allen heute Mitwirkenden herzlich danken für diese Preisverleihung unter erschwerten Corona-Bedingungen – darüber hinaus auch meinen Mitstreiter:innen und Wegbegleitern, denn alleine hätte ich das alles wohl nicht geschafft.

Und dann möchte ich noch, wie ich es gerne bei solchen Gelegenheiten mache, an einen Ausspruch des Schriftstellers Günther Eich erinnern, den ich in meinem Abitur 1967 mit Bedacht als Aufsatzthema ausgewählt hatte und der in gewisser Weise zu meinem Lebensmotto wurde: „Seid unbequem, seid Sand, nicht Öl im Getriebe der Welt.“ Dieser Satz, dieser Aufruf gilt gerade auch in diesen schweren Zeiten der Pandemie und großer Gefahren – die, wie gesagt, aus ganz unterschiedlichen Richtungen lauern. Die heutige Preisverleihung gibt mir hoffentlich Kraft, diesem Lebensmotto weiterhin treu zu bleiben. Bleiben wir alle zusammen grundrechtssensibel – auch in Zeiten von Corona. Vielen Dank!


Bei Presserückfragen wenden Sie sich an: Dr. Andreas Engelmann, Bundessekretär der VDJ, Tel.: 06971163438, E-Mail: bundessekretaer@vdj.de
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