Hans-Litten-Preisverleihung in Berlin
Dr. Miriam Saage-Maaß und Wolfgang Kaleck wurde der Hans-Litten-Preis 2016 in den Räumen der Bundesrechtsanwaltskammer im Hans-Litten-Haus am 15.10.2016 in Berlin verliehen.
Der Preis würdigt insbesondere ihre Verdienste bei der strategischen Rechtsverteidigung des ECCHR für nachhaltigen Einsatz zur Durchsetzung weltweiter Menschenrechtsstandards und bei der Verfolgung von Völkerrechtsstraftaten.
Die Schriftstellerin Kathrin Röggla, Stellvertretende Präsidentin der Berliner Akademie der Künste und Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt hat die Laudatio auf die Preisträgerin und den Preisträger gehalten:
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Miriam Saage-Maaß, lieber Wolfgang Kaleck,
„Dieser Film hört nicht auf.“ Den Satz habe ich vor zwei Wochen auf einer Konferenz gehört, und er bezog sich auf einen Film, den der Künstler und Fotograf Omar D. in Algerien fertiggestellt hat. Er hatte Passfotografien von den in den 90er Jahren Verschwundenen an Gegenfotografien montiert, die das Flüchtige, sich Entziehende, die Leerstellen beschreiben sollten. Dieser Film hört deswegen nicht auf, weil es so viele Menschen sind, die zum Verschwinden gebracht worden sind, in Algerien alleine dreht es sich um zehntausende, nein, dreißigtausend Menschen. Ich habe die genaue Zahl nicht mehr im Kopf, sie hat sich sofort vertschüsst, weil sie eine Unvorstellbarkeit darstellt, und doch weiß ich, sie ist wesentlich, und an ihrer Sichtbarkeit, mehr noch, ihrer Bedeutung, arbeitet jemand wie Omar D.
„Dieser Film hört nicht auf.“, wurde also auf der Konferenz „Gedächtnis und Gerechtigkeit“ gesagt, die Wolfgang Kaleck und das ECCHR (European Center for Constitutional und Human rights) gemeinsam mit der Akademie der Künste organisiert hatte. Der Satz kam erstmal nicht wirklich bei mir an, nichts schien er zu tun zu haben mit den tagespolitischen Ereignissen in Deutschland, AfD, Pegida oder dem deutsche Rechtsradikalismus, weit weg war ich von Gefängnissen, in denen man auch in unserer westlichen, ach so demokratischen Welt verschwinden kann, ich habe es nicht mit der Angst zu tun bekommen, schließlich war es eine Äußerung über Herrschafts- und Repressionstechniken im Rahmen von Diktaturen und autoritären Regimen, die wir stets woanders vermuten. Seltsamerweise können sie aber genauso wie Foltermethoden schneller reisen als die Menschen, die vor ihnen fliehen, und leider muss man sagen, sind das Verschwindenlassen wie die Folter heute ganz schön unterwegs.
Es war allerdings nicht nur die Zahl, die mein Vorstellungsvermögen behinderte, es war auch nicht die angebliche Ferne der Äußerung, die Technik des Verschwindenlassens beinhaltet selbst schon eine Ambivalenz von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, die gezielt produziert wird. Denn die Gräuel zu zeigen und gleichzeitig unsichtbar zu machen, ist eine der perfidesten Machtstrategien – man vernichtet nicht nur den politischen Gegner, sondern auch sein ganzes Umfeld, bzw. hält es über Jahre beschäftigt. Merkwürdig ist für mich, wie in manch rhetorischer Floskel von der „Unvorstellbarkeit“ der Gräuel selbst diese Technik wiedergespiegelt wird, wenn die Floskel nicht gleich der reinen Abwehr dient. Eine Abwehr, die erstmal durchaus verständlich wäre. Schließlich gibt es eben Grenzen des Sich-vor Augen-führens, der Empathie und des Mitleids. Aus Selbstschutz und aus anthropologischem Unvermögen. Dies zu durchbrechen und die anderen Formen der Unsichtbarkeitsproduktion, den gezielten Unvorstellbarkeitsfuror zu unterlaufen, daran arbeiten nicht nur die unterschiedlichsten Künstler und medialen Akteure, nicht nur die Angehörigen und Überlebenden, sondern eben auch Staatsanwälte, Rechtsanwältinnen, Juristen, Menschen wie Miriam Saage-Maß und Wolfgang Kaleck. Und auch, wenn diese Sichtbarmachung ihnen vielleicht als ein unbedeutenderer Teil ihrer Arbeit erscheint, so möchte ich dann doch damit beginnen, ganz einfach weil es mein Beruf ist.
Sie müssen wissen, ich stehe hier als Schriftstellerin vor Ihnen und bin den ganzen lieben langen Tag mit dieser Frage der gesellschaftlichen Sichtbarkeitsverhältnisse beschäftigt, ich lese beispielsweise Texte von Alexander Kluge, in denen er über das schon erwähnte anthropologische Unvermögen nachdenkt, und es mit der Diskrepanz von Nahsinnen und Fernsinnen in Verbindung bringt. Der Schriftsteller und Jurist hält es für ein aufklärerisches Projekt, geboten geradezu, diese Fernsinne zu trainieren. Er bezieht sich damit auf die Künste und ihre Fähigkeit Entferntes, weit Entrücktes, das doch gesellschaftlich so entscheidend ist, wahrzunehmen und die politische Einbildungskraft stärken, aber er bezieht sich eben nicht nur auf sie alleine.
Auch das Juristische verfügt erst einmal durch seine Sprache, Grammatik und Logik über fantastische Möglichkeiten im Training der Fernsinne, schon alleine deswegen, weil in ihm jede Menge angewandtes Abstraktionsvermögen steckt. Außerdem, so sollte man meinen, scheut das Rechtssystem keine weiten Entfernungen, ja, ich würde sagen, als gedankliches Konstrukt funktioniert es nur international, mögen auch unterschiedliche Rechtssysteme aufeinander stoßen und Grenzen gegeben sein, so ist es ideell nicht geographisch beschränkt, vor allem, wenn es um Menschenrechte und Völkerrecht geht, diesbezüglich ist ja auch gerne vom Universalismus der Menschenrechte die Rede. Doch Geographie ist eine wackelige, ja, nahezu doppelbödige Sache, auch im Juristischen. Was im Eigentümerschutz ganz nah und einfach scheint, ist im humanitären Recht plötzlich ganz fern und kompliziert, Geographie ist nicht gleich Geographie und schon gar nicht in der Praxis, und Territorium nicht gleich Territorium. Von Wolfgang Kaleck und Miriam Saage-Maaß habe ich inzwischen gelernt, dass der Vorwurf der Siegerjustiz immer wieder richtig sein kann, auch wenn man das Kind nicht mit dem Bade ausschütten soll. Mit zweierlei Maß wird eben allzuoft gemessen, und über dieses „zweierlei Maß“ im Völkerstrafrecht erfahre ich auch so einiges, wenn ich das gleichnamige Buch von Wolfgang Kaleck über die Entwicklung des humanitären Rechts in die Hand nehme: Es gebe derzeit keine wirklich universelle Justiz für Völkerstraftaten, und es herrsche in horizontaler wie in vertikaler Hinsicht politische Selektivität, da liege noch jede Menge Arbeit vor uns. Man wird sich allerdings vermutlich immer am eigenen Anspruch messen müssen.
Meine Damen und Herren, noch nie habe ich eine Laudatio verfasst, ohne das Gebiet, in dem die zu Bepreisenden unterwegs sind, wirklich zu kennen. Wie soll ich jemanden loben, dessen Arbeit ich nur in gewissen Bezügen verstehen kann? Im Bereich des humanitären und konstitutionellen Rechts hat das allerdings gute Gründe. Rechtsprechung ist zwar auch prinzipiell nicht etwas, das bei sich bleiben kann, sie ragt immer hinein in den politischen Raum, aber gerade das humanitäre Recht baut regelrecht auf das Zivilgesellschaftliche auf – Wolfgang Kalecks Texte sind voll mit Berichten der zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit – das Rechtssystem ist an dieser Stelle gewissermaßen stark nach außen gerichtet, aber es ist auch sonst ein System, das Anschlüsse braucht, so sehr es sich in seiner Sprache und seinen Mitteln, seinen Grammatiken und Logiken abzuschotten scheint und manchmal sogar in sich ruhen möchte. Es ist Herrschaftswissen und entspricht den Machtasymmetrien, Hans Litten hätte jetzt Marx zitiert und vom Überbau, der den sozialen Gegebenheiten folgt, gesprochen. Wolfgang Kaleck und Miriam Saage-Maß ist das durchaus bewusst, selbst, wenn sie es heute vermutlich etwas anders formulieren würden. Sie lehnen insofern eine rein positivistische und affirmative Haltung zum Recht ab, das zumindest entnehme ich ihrem gemeinsam verfassten und in diesem Frühjahr bei Wagenbach erschienenen Buch „Unternehmen vor Gericht. Globale Kämpfe für Menschenrechte“. Und es hat weitreichende Konsequenzen für die Gestaltung ihres Tätigkeitsbereichs.
Wie kann man angesichts der normativen, machtstützenden Grundlagen des Rechtssystems tätig werden, für die die „herrschende Meinung“ maßgeblich ist, eine schöne rechtstypische Formulierung, die mir von Miriam Saage-Maß vor zwei Wochen zugetragen wurde? Sie jedenfalls sieht sich verpflichtet, mit dem eigenen Instrumentarium gewissermaßen gegen diese Grundlagen vorzugehen. Ihr, die sich am Ende ihres Studiums mit Rechtsgeschichte und auch Rechtsphilosophie auseinandergesetzt hat, war schnell klar, sie würde danach nicht aufs konventionelle und profitable Privat- oder Wirtschaftskanzleienwesen zusteuern. Wolfgang Kaleck kannte sie schon und als sie von der Gründung des ECCHR erfuhr, wollte sie den Bereich „Wirtschaft und Menschenrecht“ gestaltend aufbauen – und tat es glücklicherweise. Mehr noch, sie ist heute stellvertretende Leiterin des ECCHRS.
Wie man mit den Mitteln des Rechts gegen das System arbeitet, vielleicht verliert und doch verändernd wirkend kann?, fragte ich sie also. Zunächst gehe es erst einmal darum, überhaupt gehört zu werden, den zuständigen Staatsanwalt dazu zu bekommen, Ermittlungen anzustellen, zu erreichen, dass die Klienten Prozesskostenhilfe erhalten, wie es im Fall KIK in Dortmund geschehen ist. KIK steht exemplarisch für jene Großunternehmen, die mit Zulieferbetrieben in Pakistan oder Bangladesh arbeiten, und sich erst einmal nicht verantwortlich dafür fühlen, was dort geschieht. Wie die Arbeitsbedingungen sind, wie es baurechtlich und dienstrechtlich aussieht, ob es beispielsweise genügend Notausgänge gibt, ob die Menschen bei einem Großbrand fliehen können, was in Karachi im September 2012 bei Ali Enterprises nicht möglich war und zwei weitere unvorstellbare Zahlen produzierte: 260 Tote und „nur“ 32 Verletzte. (Ein prekäres Verhältnis. Alleine die Kommunikation dieser beider Zahlen machen ein ziemliches Maß an Verantwortungslosigkeit deutlich.)
Es kann nicht angehen, dass die ökonomisch und sozial schwächeren Menschen weniger Rechte zugesprochen bekommen als die, die es mit anderen Mitteln durchsetzen können. Das sind die vielen Toten in Karachi, das sind aber auch die tödlichen Pushback-Aktionen im Mittelmeer, z.B. in Ceuta und Melilla, das sind die zivilen Opfer von Drohnenangriffen im Jemen und Pakistan, deren Einsatz über das deutsche Ramstein organisiert wurde und wird, welches als deutsches Ramstein keine Ahnung davon haben muss, was es als amerikanisches Ramstein macht. Vorfälle, die niemanden auf der Seite der Verantwortlichen wirklich zu interessieren scheinen, casualities, Kollateralschäden, oder welche beschönigenden Worte dafür auch immer derzeit gefunden werden in dem stets bereits gerechtfertigten Kampf gegen den Terror.
Diese Beispiele gab die Jury an, als sie beschlossen hatten, Wolfgang Kaleck und Miriam Saage-Maaß im Kontext ihrer Arbeit im ECCHR den Hans-Litten-Preis zuzuerkennen. Es sind exemplarische Fälle, sie stehen nicht für sich, auch wenn sie in ihrer Tragik erst einmal für sich stehen sollten, sie verweisen auch auf die vielen anderen Fälle, die im Dunkeln bleiben, die nicht verfolgt und aufgegriffen werden können, für die die Zeugen fehlen, die Dokumente nicht gesammelt werden konnten.
Der Begriff exemplarisch zielt jedoch nicht nur auf diese Synchronizität ab, sondern auch, dass sie nicht abgeschlossen sein können, ist der Fall von einem Gericht abgeschlossen. „Der Fall lebt“, sagte mir Wolfgang Kaleck vor kurzem beinahe nebenher, und ich dachte mir, ach so ist das, auch ein Fall kann also leben, er ist nicht einfach irgendwann zu Ende und abzuhaken. Solange die Utopie von Gerechtigkeit sich nicht verwirklicht, um es etwas pathetisch auszudrücken, solange die Asymmetrien der Macht so gnadenlos sind, ist seine Geschichte eben immer wieder neu zu erzählen, und mit dieser Geschichte müssen eben auch viele andere miterzählt werden.
Insofern ist das ECCHR auch keine einfache Kanzlei, sondern ein Institut mit 350 Alumni, die seit der Gründung 2008 dort gearbeitet haben, 30 Mitarbeiterinnen, und einem Programm von Veranstaltungen, Weiterbildungen, einem reichhaltigen Netzwerk an asoziierten Organisationen und Rechtsanwälten. Insofern veranstaltet es gerne Konferenzen mit, und sein Gründer Wolfgang Kaleck, aber auch Miriam Saage-Maß schreiben Bücher, publizieren Aufsätze, Artikel, gehen immer wieder in die Öffentlichkeit. Es ist ein politisches Unternehmen, ganz im Sinne des Namensgeber des heute verliehenen Preises.
Und insofern – ein weiteres „insofern“ – sind die beiden Preisträger froh um gelingende oder halbwegs gelingende Modelle der Aufarbeitung: Allen voran das Argentinien-Modell, das Chile-Modell, ein bisschen vielleicht auch das Südafrika-Modell, vieles, was eben so in dem Bereich der transitional justice gehört. Da es Modelle sind, heißt es, dass sie potentiell weiterentwickelt werden können. Sie sind wohl die am diametralsten gegenüber des in Hollywood dargestellten Recht positioniert, der Welt des Falles, der bei sich bleibt und unbedingt in jenem einen Verfahren gewonnen werden muss. Niemals werden sich deren Geschichten in einem Gegenüber von Protagonist und Antagonist erschöpfen, auf die die meisten Drehbuchautoren hinauswollen, und niemals wird es alleine ums Gewinnen von Fällen gehen und um tragische Fallhöhen, die die eine gerichtliche Entscheidung verursachen könnte oder auch nicht.
Er verstehe seine Arbeit durchaus als Intervention, erzählte mir Wolfgang Kaleck, auch wenn, könnte ich jetzt hinzufügen, die Chancen gegen die asymmetrischen Verhältnisse anzugehen schlecht stehen, die Interessen sind zu ungleich verteilt. Im Recht der „herrschenden Meinung“ gehört das Verlieren mit dazu, glaube ich ihn aber schon sagen zu hören, „auch wenn ich durchaus mich nicht damit zufriedengebe.“ Verwunderlich wäre es nicht von jemandem, der schon lange, zumindest schon einige Zeit vor seiner Gründung des ECCHR im Jahr 2008 auf dem Feld der Human and Constitutional rights unterwegs war. Um das so lange zu machen, muss man diesen Erwartungsspagat sozusagen hinbekommen. Seit den frühen 90ern hat er sich um Argentinien und die Straflosigkeit, DDR und die Stasi, Guantanamo und Rumsfeld gekümmert – Themen, die er mitnahm ins ECCHR oder die ihn umgekehrt mitgenommen haben - er hat im Bereich Völkerstraftaten und rechtliche Verantwortung dort nun ein Themenfeld abzustecken von Argentinien über den Kongo, Kundus bis zu Syrien, vom Geheimdienst, der Arbeit von Whistleblowern wie Snowden und dem US-Folterprogramm.
Meine Damen und Herren, vor nicht allzulanger Zeit habe ich den Dokumentarfilm „The Act of Killing“ von Joshua Oppenheimer (von 2012) gesehen, der die Gräuel des indonesischen Regimes 1965 gegen die Kommunisten thematisierte. In diesem Film stellen die damaligen Täter ihre mörderischen Taten von damals nach. Das ging ihnen leicht von der Hand. Zu leicht, fast komisch wirkte diese Reinszenierung und sie mehr und mehr wie Gespenster. Mich überfiel ein Gefühl der Unheimlichkeit, das im Laufe des Films mehr ins Surreale kippte. Wieso? Weil sich die Täter ihrer Schuld offensichtlich überhaupt nicht bewusst waren. Ihr grausames Handeln blieb folgenlos, ja, wurde vom Regime allzulange als Heldentat gefeiert – wir sprechen hier immerhin von einer Million Kommunisten, die brutal ums Leben kamen. Der Film lebt natürlich von der Diskrepanz des unterschiedlichen Ausmaßes von Schuldbewusstsein. Weil den Zuschauern im Gegensatz zu den Tätern die Schuldhaftigkeit eben bewusst ist. Er würde in dem Moment nicht mehr funktionieren, wo wir sagen würden: Recht haben sie. Aber wie oft tun wir das. Wie oft sehen wir in das Gesicht des fehlenden Schuldbewusstseins ohne es zu merken?
Vielleicht geht es darum, dieses mind mapping, dieses kollektive Bewusstsein zu entfalten? Aber vermutlich wäre so eine Formulierung meinen Preisträgern viel zu defensiv. Und das ist mein zweites Dilemma dieser Laudatio. Wie komme ich sprachlich zu dem Ausmaß an Kampfbereitschaft und offensiven Auftreten, das mir begegnet ist in den letzten Wochen?
Mitschreiben hilft da nicht viel – als Schriftstellerin schlüpfe ich ja immer wieder in die Rolle einer Mitschreiberin, oft eine Mitschreiberin des Unbestraften, um es zur Kenntlichkeit zu entstellen - so schreibe ich zum Bsp. das Wort „Unternehmensunrecht“ mit, oder das Wort „casualities“, „Gewaltexzess“, ich sehe die Argumentationsstrukturen am Werk, die Peter Weiss in seiner „Ermittlung“ bezüglich der Ausschwitz-Prozesse beschrieben hat. Banalisierung, Rechtfertigung durch die Umstände, die Strategie, von den „faulen Äpfeln“ in einem sonst so schönen, sozusagen unfaulen Obstkorb zu sprechen, den Gewaltexzessen, die nichts mit dem Systemischen zu tun haben sollen, auch gerne die Rede von den chaotischen Zuständen, in die man als redlicher Geschäftsmann hineingekommen ist und die man nun wohl oder übel benutzen muss. Frauen vergewaltigen lassen z.B. als Strafe im Kongo und anderes. Es sind Rechtfertigungstrukturen, die stoßartig hervorgebracht werden – nur um am Ende zu sagen, wir lebten in einer Welt der Zahlen.
Das ist nicht richtig. Zahlen überfordern uns, haben wir ja bereits festgestellt, wir können sie uns nicht vorstellen. (Wenn uns schon der Tod eines einzigen geliebten Menschen überfordert, wie sollen wir da zur Zahl 260 kommen?)
Ich weiß derzeit nur, Straflosigkeit im Sinne einer Konsequenzlosigkeit hat ein merkwürdiges Eigenleben. Sie scheint nicht auszulaufen, unter dem Motto: Die Zeit heilt alle Wunden, sie scheint sich mehr und mehr zu verstärken, wächst mit der Zeit, und sie verwächst fester und fester mit der sie umgebenden Gesellschaft. Misstrauen, Angst, Paranoia sind die Folge, und auf kürzere oder längere Sicht, erneute Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Diese haben einen langen Atem. Sie wachsen sich aus. Ihre Zeit läuft niemals ab.
Es ist insofern wichtig, die Sachen zu verfolgen, es ist wichtig, dass es zu einem gerichtlichen Verfahren kommt. Ich habe auf jener eingangs erwähnten Konferenz davon gehört, dass das Leben eines 95-jährigen Überlebenden noch eine erfreuliche Wende erfahren hat durch das Gröning-Urteil, und nicht nur für ihn, ich denke, es hat für die Gesamtgesellschaft eine enorme Bedeutung, denn das ungenügende Aufarbeiten des Vergangenen kann, wie man derzeit verstärkt in Ostdeutschland und in Österreich (ich erinnere hier an Rechnitz) immer wieder sieht, jederzeit zum Wiederauftauchen von manch politischen Gespenstern führen.
Das European Center vor Constitutional and Human Rights ist eine besondere Organisation mit besonderen Menschen, die mit viel Idealismus, fachlicher Expertise, steter Weiterbildung und ebenso steter – und das ist sehr wesentlich - Selbstkritik an ihre Arbeit gehen. Sie wissen, dass die meisten Fragestellungen vielschichtig sind, nicht nur im juristischen Sinn, auch im ethischen, kommunikativen. Sie bewegen sich mit ihren Kontakten, Netzwerken von alliierten Anwälten und humanitären NGOs quer durch dieses Feld, und doch wird diese Organisation, von ihrem Initiator und legal director Wolfgang Kaleck und seiner Kollegin und Vize-Direktorin Miriam Saage-Maaß entscheidend geprägt, weswegen sie beide heute für ihre Organisation den Preis entgegennehmen, und die Organisation umgekehrt sinnbildlich für Wolfgang Kaleck und Miriam Saage-Maß.
In der Jurybegründung heißt es, der Hans Littenpreis möchte juristisches Wirken auszeichnen, das kompromisslos dem Recht verpflichtet ist und der Konfrontation mit den politischen Machtinteressen und ihren Institutionen nicht aus dem Weg geht. Verliehen wurde er Miriam Saage-Maß und Wolfgang Kaleck für ihre Arbeit, die strategische Ausrichtung und Reklamierung sowie Durchsetzung der Menschenrechtsstandards in einer Vielzahl von Projekten, die die Organisation ECCHR unternommen hat.
Man möge die Preisträger allerdings an ihren Wünschen erkennen: Dass nicht nur in Abwehrkämpfen, beispielsweise im Migrationsrecht, eine Bestandswahrung stattfindet, eher der Blick nach vorne geht. Nicht nur verteidigen, sondern den Rechtsraum weiter gestalten, auf eine Weise definieren, dass er dem ihm doch zu Grunde liegenden Gerechtigkeitsbegriff mehr entsprechen möge. Es gilt in die Zukunft zu denken und zu gestalten!
Liebe Miriam, lieber Wolfgang, lieber Wolfgang, liebe Miriam, ich gratuliere Euch sehr herzlich und voller Bewunderung für Eure Arbeit zu diesem Preis.