Heinrich Hannover (1925-2023) - ein Nachruf von Norman Paech
Heinrich Hannover (1925-2023)
von Norman Paech (abgedruckt in Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft 3/2023)
»Zu meiner Klientel gehörten auch Angeklagte, die dem herrschenden Zeitgeist widersprochen und zuwidergehandelt hatten, Pazifisten und Antimilitaristen, Kommunisten und linke Sozialdemokraten, Antifaschisten, Zeugen Jehovas, revoltierende Studenten und Gewerkschafter, >Landesverräter<, Mitglieder der RAF und – nach der sogenannten Wende – >staatsnahe< Bürger der DDR.« Also ein breites Spektrum am linken Rand der deutschen Nachkriegsgesellschaft. »Und da gab es Anfeindungen, die nicht nur meine Mandanten, sondern auch deren Verteidiger trafen und dazu führten, dass die Ausübung anwaltlicher Redefreiheit von der ständigen Drohung begleitet war, mich durch Ehrengerichtsverfahren zur Ordnung zu rufen, (...) und Verdächtigungen, Beschimpfungen und Morddrohungen zur Folge hatten.« Mit diesen nüchternen Worten beschrieb Heinrich Hannover seine berufliche Tätigkeit als Strafverteidiger. Es gibt nicht viele herausragende politische Strafverteidiger in Deutschland, etwa Karl Liebknecht oder Hans Litten. Heinrich Hannover war zweifellos der bedeutendste Verteidiger in der Nachkriegszeit. Ihm blieb das Schicksal seiner beiden Vorgänger erspart, nun starb er am 14. Januar friedlich im Alter von 97 Jahren.
Dass er einmal Kommunisten und »Staatsfeinde« verteidigen würde, hatten ihm die Eltern aus »gutbürgerlichem Haus«, wie er es selbst nannte, sicherlich nicht vorbestimmt. Denn zuhause »überwog die Bewunderung für die Hitler, Göring und Goebbels und deren markige antikommunistischen Sprüche. Mein Freund Günter und ich phantasierten uns in langen Wechselgesprächen zu Herrschern erfundener Länder, in denen es keine Kommunisten gab, so dass alle herrlich und in Freuden leben konnten.«. So war er in der Hitlerjugend, im Reichsarbeitsdienst und wurde im August 1943 zur Wehrmacht eingezogen, bis zur Befreiung, die er in englischer Kriegsgefangenschaft erlebte. Die Gräuel, die in dieser Zeit verübt wurden, hatten ihn nach eigenem Bekenntnis zum Antimilitaristen und Pazifisten gemacht. Das war der erste Bruch mit der Welt seiner Eltern, die sich 1945 aus Angst vor den Kommunisten das Leben genommen hatten. Das Friedensgebot des Grundgesetzes war ihm später eine der wichtigsten Verpflichtungen, auf die er immer wieder pochte.
Das anschließende Studium und die Berufswahl als Immobilienanwalt versprachen die Fortführung des bürgerlichen Lebens, wenn nicht ausgerechnet die Verteidigung eines Kommunisten, die ihm 1954 als Pflichtmandat übertragen wurde, zum zweiten Bruch mit der Familie führte und ihn aus diesem – man muss es wohl so sagen – faschistischen Denkmilieu riss. Ohne die Wendung zum Pazifismus ist die zweite Abwendung von der Familie und Hinwendung zur politischen Linken keine 10 Jahre später sicherlich nicht zu verstehen. Otto Kirchheimer hat in seinem Buch »Politische Justiz« darauf hingewiesen, dass der Kontakt zu einer bestimmten Kundschaft am Anfang der beruflichen Laufbahn die ganze spätere Tätigkeit bestimmen kann. Aber das vermag auch nicht zu erklären, weswegen die kommunistische »Kundschaft« über die zweifellos lukrativere Welt der Immobilien siegte. Das muss sein tief verwurzeltes Gerechtigkeitsgefühl bewirkt haben – noch wichtiger seine aktive Solidarität mit den kleinen Leuten, den Minderheiten, Widerständigen und Nein-Sagern »der gegen das kapitalistische System und neue Einmischung in Krieg und Völkermord aufbegehrenden Generation«, wie er selbst schrieb. Diese politische Parteinahme auf der Seite der Verfolgten und Linken sollte seine gesamte forensische Praxis über 40 Jahre prägen.
So auch seine literarische Tätigkeit, die programmatisch 1962 mit einer Schrift über die »Politische Diffamierung der Opposition im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat« begann und die er zwanzig Jahre lang fortführte. 1982 erschien sein, gemeinsam mit Günter Wallraff verfasstes Buch »Die unheimliche Republik. Politische Verfolgung in der Bundesrepublik«. Denn die »freiheitlich-demokratische Ordnung« hatte in diesen 20 Jahren keine Fortschritte gemacht. Dazwischen hatte er 1966 mit seiner ersten Ehefrau Elisabeth Hannover-Drück, einer Historikerin, ein Standardwerk über die Klassenjustiz in der Weimarer Republik »Politische Justiz 1918-1933« veröffentlicht. Das Buch entfaltet ein bedrückendes Panorama antidemokratischer, monarchistischer Gesinnungsjustiz, das Hannovers Erkenntnis stützte, dass der Faschismus nicht von den Rändern, sondern aus der Mitte der Gesellschaft kam. Darüber hinaus liefert es einen wichtigen Baustein zum Verständnis, wie es zu dem Rückfall in die Barbarei kommen konnte und welche Kräfte dabei eine besondere Rolle gespielt haben. Die Neuauflage 2019 kommt zur richtigen Zeit.
Eine bundesweite Prominenz erlangte er durch seine jahrzehntelange Präsenz in den Gerichten als Verteidiger von Kommunisten, Widerstandskämpfern, Kriegsdienstverweigerern und RAF-Mitgliedern – eine oft unangenehme Bekanntheit. Der Ruf etlicher seiner Mandanten bescherten dem »Kommunisten- und Terroristenanwalt« eine feindliche Öffentlichkeit. So brachte ihm vor allem das Mandat von Ulrike Meinhof nicht nur Beschimpfungen und Morddrohungen ein, sondern trieb ihn in erhebliche Gewissensprüfungen. Denn er sollte nicht nur sie, sondern zugleich »die Praxis der RAF« verteidigen. Die Gewalt der RAF konnte er jedoch mit seinem Pazifismus nicht vereinbaren. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen in der Untersuchungshaft mit dem Ergebnis, dass er noch vor Eröffnung des Hauptverfahrens das Mandat niederlegte. Das Nachspiel zeigt besonders deutlich die Verunsicherung und ratlose Aggressivität der damaligen Gesellschaft. Wegen »standeswidrigen Verhaltens« wurde er vom Ehrengerichtshof der Anwaltschaft zu 3000 DM Geldbuße verurteilt, da er die Haftbedingungen für Ulrike Meinhof als Folter bezeichnet hatte.
Hannovers große und weitgespannte Prozesstätigkeit, vom ersten Prozess 1954 für einen unbekannten Kommunisten, den er verlor, bis zu einem der letzten Prozesse 1993 für einen bekannten Kommunisten, Hans Modrow, den er auch verlor, dazwischen aber zahlreiche erfolgreiche Prozesse vor allem für Kriegsdienstverweigerer und manch anderen unbekannten und bekannten Namen, ist gut dokumentiert. Während die Prozesse von Karl Liebknecht erst jetzt von Matthias John gesammelt und in einer mehrbändigen Edition publiziert werden, hat Heinrich Hannover in zwei umfangreichen Bänden »Die Republik vor Gericht 1954-1974 und 1975-1995« den bedeutendsten Teil seiner Prozesstätigkeit mit seinen Lebenserinnerungen zu einem illusionslos kritischen Spiegel bundesdeutscher Geschichte verbunden.
Mit der Zeit erkannte auch diese Republik, zumindest ihre liberalen Vertreter, welche Bedeutung dieser große unbequeme Anwalt für ihre Demokratie und den Rechtsstaat hatte. Er erhielt etliche Preise. In der Zeit, als ich einen meiner Studenten an der Humboldt-Universität in Berlin/DDR promovieren konnte, da eine Dissertation an der heimischen Universität in Hamburg keine Chance hatte, bekam Heinrich Hannover die Ehrendoktorwürde der Humboldt-Universität, die ihm die wertvollste von all den zahlreichen Ehrungen war, die er in späterer Zeit erhielt.
Der letzte Preis, der ihm 2019 überreicht wurde, war das Ehren-Tüddelband des Literaturfestivals Harbourfront Hamburg. Das war überfällig, denn seine in über 20 Büchern gesammelten poetisch-absurden Kindergeschichten können auch enkellose Zeitgenossen heute noch erfreuen. Seinen Kindern Almut, Bettina, Heiner, Irmela und Jantje sei Dank, sie sollen seiner Inspiration auf die Sprünge geholfen haben.
Und auch das: Heinrich spielte gern. Wenn wir mit seiner zweiten Frau Dorette, mit Jutta Bauer, Gerd Siebecke und meiner Frau Katrin Magnitz in Worpswede oder Hamburg zusammen am Tisch saßen und spielten, war es laut und fröhlich. Wer Heinrich Hannover gekannt hat, wird sich immer an sein schallend herzliches Lachen erinnern. Denk ich an Heinrich, höre ich sein Lachen, und dann ist mir wohl ums Herz.