Laudatio an Hermann Klenner und Erwin Siemantel
von Prof. Dr. Gerhard Stuby
Ich komme mir verloren vor. Irregeleitet von Ursula Mende, unserer Vorsitzenden, die qua Amt dafür zu sorgen hat, daß alle zwei Jahre der Littenpreis in würdige Hände kommt. Ich ließ mich dazu verleiten, eine laudatio über die diesjährigen Preisträger zu übernehmen.
Spontane Identifikation mit Hermann Klenner und Erwin Siemantel machte mich blind für die noch nicht ganz ausgeheilte Krankheit aller Weltverbesserer, sich zu überschätzen. In ihrer Blindheit nahmen Ursula und der Bundesvorstand an, ein alter „Bremer sog. Staatsrechtslehrer" (Anm. 1) der einzig übrig gebliebene, die anderen sind echt inzwischen, und ein leibhaftiger Professor an einer deutschen Juristenfakultät immerhin hätte etwas mit Preisen und Festschriften zu schaffen, insgeheim zumindest. Meinen inzwischen nolens volens eingenommen hanseatischen Habitus haben sie übersehen. Ich habe ihn auch verborgen. Irgendwie veranschlagten sie meine berechnende Eitelkeit. Da ich Geburtshelfer der VDJ bin, gingen sie zudem davon aus, ich sei intimer Seelenkenner der weiteren Entwicklung dieser Vereinigung und ich wisse auch, weshalb sie sich in die Preisverleiher dieser Republik eingereiht habe. Wie gesagt, sie müssen blind gewesen sein: Seit wann kennen Väter und Mütter die Seelen ihrer Söhne und Töchter?
Kurz müsse die laudatio sein, schärfte Ursula mir später ein, als mir allmählich der Irrtum meiner spontanen Zusage bewußt wurde. Sie hat recht, dachte ich: der Preis ist klein, die Preisverleiherin auch und zudem recht unbedeutend, nicht nur, wenn man auf Nobel nach Stockholm linst, selbst auch auf den alternativen. Eins ist jedenfalls sicher: Der Anti-Nobelpreis (Ig Nobel) aus Harvard galt nicht als Vorbild. Dieser wird für Errungenschaften vergeben, die nicht wiederholt werden können und sollen, wie die Entdeckung von Psychologen, daß Furzen als Verteidigung gegen unaussprechliche Furcht zu betrachten sei (Anm. 2). In die Dichtersprache von Martin Walser übersetzt heißt das: Ich zittere vor Kühnheit. Ästhetischer, schöner ausgedrückt, zugegeben. Ich liebe das Derbere, sorry.
Wie dem auch sei, die Umstände unseres Preises sind derart, daß eine kurze Preisrede das einzig Angemessene ist, auch dann, wenn die Preisträger nicht so unbedeutend sind, wie das jetzt lauschende Publikum diesen Eingangsbemerkungen entnehmen könnte.
Die diesjährigen Preisträger sind bestens gewählt, nämlich Hermann Klenner und Erwin Siemantel. Die Paarung insbesondere ist gelungen (wegen des nachträglichen Konvergenzübergriffs, klarer: ein Ossi, ein Wessi). Die Gewählten also zumindest stärken den Preis, wie ja überhaupt die recht stattliche Reihe, die den beiden vorausging, geschlechtlich wohl ausgewogen: Barbara Hüsing, Felicia Langer, Helmut Kramer, Barbara Degen.
Ihrer beiden vitae haben ins Auge fallende Übereinstimmungen: Beide Sozialisten geworden, reagierend auf politische Verhältnisse, die geprägt waren vom untergegangen, weil von außen zerschlagenen Nazi-Deutschland und den unmittelbaren Nachkriegswirren im beginnenden Kalten Krieg. Der sollte denn auch das Klima ihrer geistigen, vor allem juristischen Sozialisierung prägen. Sie gestalteten ihre persönlichen Beziehungen ähnlich: Beide haben in diesen Wirren ihre erste Liebe gefunden, ihre Ehepartner bis heute. Das wäre eines Preises würdig, aber außerhalb Litten. Es gab feine Unterschiede, nicht nur aus der Differenz der vier Jahre im Lebensalter, auf die ich noch zu sprechen komme, denn 18 Jahre im Zeitpunkt eines geschichtlichen Umbruches oder 16 Jahre wie beim jüngeren Erwin Siemantel bedingen recht verschiedene Sichten auf die Welt.
Kommunisten später beide, daher bekanntlich einäugig kämpfend für Menschenrechte wie ein hartnäckiges on dit behauptet -, wir kommen dem Geheimnis der Begründung dieses Preises und seiner diesjährigen Teilung näher, zwei Einäugige machen einen Sehenden nämlich, und wenn man den laudator hinzunimmt, könnte man dem gefälligen Publikum inzwischen mit drei Augen dienen. Unter uns, es sind inzwischen schon wieder fast scharf sehende geworden. In einem hatte unser aller drei nach wie vor verehrter Meister richtig gelegen: Der Test der Praxis rückt näher an die Wahrheit. Um ihn ein bißchen abzuwandeln: Leichte Schläge auf den Hinterkopf fördern das Denkvermögen.
Ich soll eine kurze Rede halten, nicht eine Abhandlung abfassen. Anmerkungen bei einer solchen, die man nachlesen kann, gäben einen profunden Anstrich. Eine Rede hingegen muß unmittelbar wirken. Ihre Gedanken, falls sie welche enthält, müssen augenblicklich einleuchten, oder man hält sie so dunkel, daß sie tief wirken. Ich will aber eine verständliche und nicht eine tiefe, gar deutsche Rede halten. Es soll eine verständliche Rede sein, nicht zu verwechseln mit einer selbstverständlichen, die man gar nicht halten brauchte. Daher komme ich um einige Anmerkungen nicht herum.
Die erste: Ach wenn es mit dem Kommunismus so einfach wäre, wie es sich so mancher Analytiker mit seiner scharfsichtigen Nashornweisheit macht, die sich als besseres Wissen von heute ausgibt. Reizen des Neidkomplexes, die Wenigerhabenden gegen die Mehrbesitzenden aufbringen (mit katastrophalen Folgen für beide angeblich), Versprechen der raschen Befriedigung von Gier und Habsucht, so ähnlich seien die Kernpunkte jeder kommunistischen Programmatik auch heute noch, mit Blick auf Italiens und Frankreichs muntere Kommunisten (Anm. 3). Ende der ersten Anmerkung.
Demokratische Juristen wollten beide sein und sind es auch geworden, obwohl das nicht einfach zu bestimmen ist. Noch am eindeutigsten in der Negation des antagonistischen Antipoden, des furchtbaren Juristen. Für die Prägezeit der beiden Preisträger war das ein deutliches Scheidemerkmal, die Namen Globke, Oberländer etc. machen es bewußt. Diese gab es in Deutschland West, in Ost gab es auf dieser Ebene des Staates keine Nazis, und Stalinisten, obwohl ich sie nicht liebe, und nie geliebt habe, nehme ich auch heute trotz Schwarzbuch leichter hin als Nazis.
Zweite Anmerkung: Demokratische Juristen treten ein für soziale Gerechtigkeit, also nicht für Gerechtigkeit schlechthin. Wir nähern uns unwegsamen, zum Teil verminten Gelände. Denn hier werden aktuell wirksame Differenzen deutlich. Wie lange kann denn der für die Besitzlosen oder wenig Besitzenden, die gesellschaftlich Ausgegrenzten sich engagierende Jurist von einem neutralen staatlichen Schiedsrichter überzeugt sein, der justitia sei es als commutativa sei es als distributiva handhabt? Eher packt ihn die banale Erkenntnis, daß das herrschende Recht schlicht das Recht der Herrschenden sei. Ist dieses dann, wenn er es lernt und lehrt, erforscht, forensisch vertritt, richterlich und verwaltungsmäßig anwendet, lediglich ein Instrument, taktisch verwendet wie Messer und Gabel beim Essen oder näherliegend die Pistole zum Verteidigen. Und wie stellt sich die Frage, wenn der ehedem Ausgegrenzte, Ausgebeutete der Herrschende wird oder glaubt, es zu sein? Ein gescheiterter Versuch läßt das ungelöste Problem zurück, das uns in Atem hält, wenn wir es nicht aus Erschöpfung und Bequemlichkeit verdrängen, ein Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht mit Dürrenmatt’schem Ausmaß und Intensität wäre erforderlich. (Anm. 4). Ende der zweiten Anmerkung.
Der Namen Litten sollte uns davor bewahren, zu ermatten in diesem Vorhaben. Vielleicht war das der tiefere Grund für die Einrichtung dieses Preises? Als die VDJ in der alten Bundesrepublik diesen Namen wählte, war dieser nur marxistischen Insidern bekannt. Diese wußten natürlich, daß es in Berlin Hauptstadt eine Straße gab, die seinen Namen trug. Nicht eine, die in der Wiese endete, sondern im Zentrum, just dort, wo das Oberste Gericht der DDR residierte. Es erstaunt heute, nicht daß das Oberste Gericht mit der DDR verschwunden ist, sondern daß es die Littenstraße jetzt mitten im besten (vereinigten) Zentrum von Berlin immer noch gibt, mehr noch, daß heuer die Bundesverfassungsgerichtspräsidentin bei der Gedenkfeier im KZ Dachau sprach, wo sich Litten genau vor 60 Jahren aus Verzweiflung 38jährig erhängte. Sollte die neue, die bald berlinerische Republik europäischen Standard erreicht haben, so daß auch das Erstaunen hierüber atavistisch erscheint? Haben wir da etwas falsch gemacht oder auch mal etwas Richtiges?
Was preisen wir an Hermann Klenner, um mit dem älteren 1926 in Erbach/Odenwald Ge-borenen, fortzufahren. Die verführte Unschuld der Jugend schob die relative Gegenwirkung der katholischen Großeltern beiseite, bei denen das voreheliche Kind aufwuchs. Hitlerjugend, Dienst in der Wehrmacht, Fronteinsatz durchaus nicht gegen die Überzeugung, beendet durch Verwundung, Lazarett und amerikanische Gefangenschaft in Thüringen. Daß man letztlich bei den Sowjets landete, hatte persönliche, überhaupt keine ideologischen Gründe - Amerikaner wie Sowjets waren gleich verhaßt als Besatzer -, man wollte zur Familie nach Schlesien, und da waren eben die Russen. „Als Gregor Samson eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt." (Anm. 5) So kafkasch, walserisch verfremdet mag der junge Klenner sich nach der occupatio bellica, vulgo Zusammenbruch Deutschlands gefühlt haben.
Politisches Engagement in der SED, welche Alternative gab es für einen intelligenten jungen Menschen in der SBZ /DDR, nachdem er das Ungeziefergefühl verwunden (nicht überwunden) hatte? Studium der Rechtswissenschaften in Halle, Karriere im Wissenschaftsbetrieb der DDR soll hier als bekannt vorausgesetzt werden. Loben wir heute mit dem Namen Litten seine Tätigkeit als Wissenschaftler etwa? Und zwar von der Produktivität eines mittleren Universitätsinstituts, wie er einmal in einer laudatio für einen Kollegen (Wilhelm R. Beyer 1976) schrieb? (Anm. 6) Er hatte wohl ein solches der DDR vor Augen, denn nach unseren bundesrepublikanischen Maßstäben müßte das bei einem Ausstoß von über 621 Titeln bis Ende 1997, von 1995-1997 allein 51, schon etwas größer, zumindest mit einem guten Polster an Drittmitteln versehen gewesen sein. Wir bewundern eine derartig fruchtbare Meisterschaft, selbstverständlich. Ist Besessenheit, produktive Triebhaftigkeit preiswürdig? Selbstver-ständlich: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, Büchner-Preis, Grimme-Preis, aber auch Litten-Preis? Den produktiven und provokativen Wissenschaftler im Ringen um „Recht und Ideologie in historischer Perspektive" haben Berufenere in einer zweibändigen Ausgabe mit diesen Titel gepriesen, herausgegeben von Haney, Maihofer u.a ? (Anm. 7) Dies ist nicht der Grund für uns, die Verleiher des Litten-Preises, Klenners wissenschaftliches Oeuvre nicht eingehender zu würdigen, wenn auch ein Glück für mich. Ich konnte mich so verhalten wie Hegel und Brecht, nämlich von Klenner nur das zu lesen, was ich brauche, und genau dies kenntnisreiche und tiefgründige Zitat habe ich dieser Lektüre zu danken. (Anm. 8).
Wenn also nicht der Wissenschaftler an seinem Werk, keinesfalls an der Quantität, zu messen ist, loben wir dann die Dissidentenmomente, die in seiner Wissenschaftskarriere in der DDR von manchen gesehen werden? Wir kommen der Inanspruchnahme von Litten schon näher. Daß Klenner 1958 auf der viel genannten Babelsberger Konferenz Walter Ulbricht „anstößig" wurde und als Bürgermeister in Letschin landete, oder später wegen seiner Widerborstigkeit nicht Fuß fassen konnte an der Humboldt-Universität, ehrt ihn nicht erst nach 1989. Wer würde hierzulande die Bundesrepublik der 50er und 60er Jahre mit der späteren der 70er und 80er Jahre identifizieren? Hinsichtlich der DDR ist es üblich (Anm. 9). Klenner mußte als Wissenschaftler aus Leidenschaft an der errungenen Unabhängigkeit seines Denkens festhalten. Als richtig Erkanntes hat er notfalls mit der Verbissenheit eines Terriers verteidigt. Mut, Eigensinn, Eigenschaften, ohne die Wissenschaft, die sich selbst Wort hält, nicht möglich ist. Aber Dissident erscheint mir fraglich. Die scientific community der DDR war dann doch zu klug, - diese Feststellung mag dem zeitgeistigen Denken der krähwinkligen Bundesrepublik absurd erscheinen -, einen produktiven, manchmal sperrigen Geist wie Klenner nicht zu den ihren zu zählen, zu eitel allemal, denn die Anerkennung der internationalen scientific community war unübersehbar. Nein, den Staat DDR hat Klenner akzeptiert und ihm gedient in vielfältigen internationalen Missionen im Kontext der menschenrechtlichen Kontrollgremien auf UNO-Ebene.
Hier sind wir ganz nahe an Litten. Denn diesen Gremien ging es selten um Abwehr der Angriffe auf die DDR - sie war trotz vieler auch dort gesehener Mängel - diese Erkenntnis bedurfte nicht des Blickes in die Stasi-Akten oder neudeutscher Pamphlete - ein angesehenes UNO-Mitglied. Im Mittelpunkt standen vielmehr die wegen ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihrer Sprache, ihrer religiösen und politischen Überzeugungen Geschundenen in Vietnam, Südafrika, Namibia, Chile u.a.m., gestritten wurde um ein Recht auf Existenzminimum, auf Arbeit, auf Gesundheit, kurz: um wirtschaftliche und soziale Grundrechte. Hierauf konzentrierte sich die Diplomaten- und wissenschaftspolitische Tätigkeit eines Hermann Klenner, ebenso wie sein gesamtes wissenschaftliches Werk. Welche Motive den Staat DDR auch immer bewegt haben mögen, an sich haben nur Menschen Motive, im Kontext der UNO, in dem Klenner als Repräsentant für die DDR auftrat, war dies Streitbarkeit für die Menschenrechte, und nicht etwa Streitbarkeit für die Diktatur, wie der Differenzierung unfähige eifernde Geister behaupten, die ihr besseres Wissen von heute Biographien nachtragen (Anm. 10). Es ist alles andere als ein Plädoyer für die Unschuld des Erinnerns im Sinne von Martin Walser (Anm. 11), wenn wir heute Hermann Klenner als einen vorbildlichen demokratischen Juristen loben.
Damit komme ich zu Erwin Siemantel, vier Jahre jünger, selbe Wolle, aber ganz anders ge-strickt. Aufgewachsen in einer dezidierten antifaschistischen Familie, der Vater hat sich dem französischen Widerstand angeschlossen, gab es für ihn keine Alternative zur SED, und als diese in den Westzonen verboten wurde, zur KPD und FDJ. Er hatte es einerseits einfacher als Klenner. Das Ungeziefergefühl blieb ihm erspart. Andererseits hatte er es schwieriger. Denn zwangsläufig geriet er in den gar nicht so zimperlichen Adenauerschen Repressionsapparat (Anm. 12). Ein Studium in der DDR zu absolvieren, der Alternativzelle für ein anderes Deutschland, nachdem der Westen ein neutrales Gesamtdeutschland nicht zuließ, war alles andere als abwegig oder gar ideologisch verbohrt. Die planvolle Einsteuerung in ein juristisches Studium und der Verzicht auf das gewünschte Chemiestudium wurde als Auswirkung der echten volonté générale, nämlich der des Arbeiter- und Bauernstaates nicht nur äußerlich akzeptiert.
So mit dem Juristendiplom der einphasigen Juristenausbildung, wohl qualifiziert und gewappnet, Rückkehr in den Westen nach Düsseldorf. Das sahen die Juristenausbilder im dort herrschenden Recht ganz anders: DDR-Examina, nicht nur wegen der Einphasigkeit, die 20 Jahre später dann ein rotes Bremer Tuch sein sollte, wurden nicht anerkannt. Erwin Siemantel war zunächst in verschiedenen Rechtsanwaltspraxen mit der Verteidigung in zahlreichen Gesinnungsstrafprozessen gegen Kommunisten u.a. beschäftigt, auch im Mammut-Verbotsverfahren des BVerfG gegen die KPD involviert. An eine formale Nachqualifikation als bundesrepublikanischer Jurist konnte er vorerst nicht denken. Erst Ende der 60er Jahre nach Lockerung des KPD-Verbotes bot sich ihm die Chance über Helmut Ridder in Gießen, den er ebenso wie Posser, Güde und Maihofer während seiner Tätigkeit im Amnestieausschuß kennengelernt hatte, ein juristisches Instant-Studium nachzuholen. Zielstrebig nahm er diese Chance wahr, promovierte zudem über Parteienrecht, so daß er alsbald als normaler bundesrepublikanischer Anwalt zugelassen wurde.
Normal in der formalen Berufsqualifikation schon, in der Anstrengung diese zu erlangen, schon nicht mehr ganz, aber deshalb preisen wir ihn unter dem Kriterium Litten noch nicht. Schon eher für seine Tätigkeit in einer Anwaltspraxis mit vielen sozialen Problemen: Vermieter, Frauen im Ehescheidungsverfahren, Unterhaltsprozesse, Asylanten etc., stellvertretend für die meisten unserer Mitglieder, die tagtäglich ähnliches zu tun haben. Es ist das konkrete Engagement für diejenigen, die der Rechtsstaat Bundesrepublik seine eigenen Kriterien mißachtend wegen ihrer anderen politischen und weltanschaulichen Gesinnung diskriminierte - und Erwin Siemantels gekonnt berufliches Engagement - das belegt manch kluger und strategisch-taktisch durchdachter Artikel - ging weit über das normale Maß hinaus - deshalb unser Respekt (Anm. 13).
Ich habe Erwin Siemantel zum erstenmal 1970 in einem kleinen Kreis kennengelernt, der über die Auswirkungen des Hamburger Berufsverboterlasses diskutierte. Mein erster Artikel in den Blättern "Stehen wir vor einem neuen Sozialistengesetz?" entstand aus dieser für mich lehrreichen und im nachhinein prägenden Diskussion im von Moskau bzw. Ostberlin gesteuerten Pahl-Rugenstein-Verlag, wie von einem Kraushaar, treffender wohl Kraushirn in der FAZ behauptet wurde. (Anm. 14) Erwin Siemantel redete mir zwei Jahre später zu, den Vorsitz der gerade neu gegründeten VDJ zu übernehmen, den ich dann behielt, bis ich ihn an Norman Paech loswerden konnte. Ob er und ich damals mit Blindheit geschlagen waren, soll nicht diskutiert werden. Schon, weil Preis und Preisverleihung in ihrer Sinnhaftigkeit evident sind, sein müssen, kann es nicht Blindheit, sondern vielmehr nur prophetische Klarheit gewesen sein.
Unser heutiger Preis gebührt jedenfalls dem Geburtshelfer der VDJ, dem aufopferungsvollen Organisator, meist im Hintergrund. Er verstand es, viele Differenzen im komplizierten Geflecht der Leitung auszugleichen. Sie entstehen gerade in Organisationen, die Ausgegrenzten Halt bieten wollen, ständig selbst mit Ausgrenzung konfrontiert sind oder in Nichtbeachtung und Bedeutungslosigkeit unterzugehen drohen, zumindest gegen diese Stimmung ankämpfen müssen. Mag sein, daß der Preis ein Instrument des Selbstmutmachens ist. Insofern war der Vergleich mit dem Ig Nobel zwar etwas derb, aber nicht völlig neben der Sache liegend. Gedacht ist er zudem als Ermunterung für Menschen wie Erwin Siemantel, uns in ihrer Bescheidenheit und selbstverständlichen Hilfsbereitschaft zur Verfügung zu stehen. Ich erwähnte schon, daß ich Klenners Werk sehr taktisch für die heutige laudatio durchkämmte. Da bin ich auf einen interessanten Artikel aus dem Jahre 1974 in der NJ über „Die Gegenwartskrise bürgerlicher Rechtsphilosophie" gestoßen (Anm. 15). Ich habe ihn schon früher genau gelesen. Meine Anstreichungen und Bemerkungen weisen darauf hin, z. B. wenn ich mich, wie Klenner damals ebenfalls an Wendungen von Werner Maihofer und Norbert Reich stieß, die von etabliertem Sozialismus sprachen, um die marxistische Legitimation, auf die sich die Länder des Ostblocks beriefen, in Frage zu stellen. Das nur nebenbei, um auf die Gemeinsamkeit unserer Irrtümer hinzuweisen.
Viel interessanter ist dort angeführtes Zitat von F. Dürrenmatt über die „Ideologien als den Kosmetika der Macht". Ich habe mich viel später als Klenner, der mir nicht nur einiges an Jahren, sondern auch an bürgerlicher Bildung und damit an Belesenheit voraus ist - das müssen übrigens auch sonst hämische Kommentatoren neidvoll konstatieren -, mit dem hintergründigen Sarkasmus von Dürrenmatt beschäftigt. So habe ich das Werk von Dürrenmatt, Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht von 1969 erst heute genauer gelesen. In dem erwähnten Aufsatz schränkt Klenner das verwendete Zitat über die Ideologien als Kosmetika der Macht auf die bürgerliche Rechtsphilosophie ein (Anm. 16). So ein bißchen subversiv muß Klenner schon nach den damaligen Maßstäben der DDR gewesen sein. Denn jedem Leser fällt sofort auf, daß Dürrenmatt auch die kommunistische Ideologie meint. Seine Kritik am realen Sozialismus der damaligen Zeit hätte vernichtender nicht ausfallen können. "Der heutige Kommunismus ist in vielem ein logisch getarnter Faschismus, ein faschistischer Staat mit einer sozialistischen Struktur. Er ist ein Nationalkommunismus, der eigentlich Nationalso-zialismus heißen sollte, hätte Hitler nicht schon sich dieses Begriffes bemächtigt." Das ist scharfer, zudem falscher Tuwak,auch heute. Das Zitat ist aus dem Zusammenhang gerissen, und Dürrenmatt meint es nicht so, wie wir es unmittelbar heute aufgreifen, jedenfalls nicht im Zusammenhang mit dem Vergleich der Verbrechen, den die aufgewärmte Totalitarismustheorie in den Vordergrund stellt. Er vergleicht lediglich den Gebrauch der staatlichen Macht. Es würde zu weit führen, dies hier zu entfalten.
Klenner mußte entweder damals darauf vertraut haben, daß kaum jemand das Werk von Dürrenmatt in der DDR kannte oder daß die Toleranzschwelle in der damaligen Zeit doch schon größer war. Ich nehme letzteres an. Dennoch es belegt, daß so monolithisch, wie heuti-ge DDR-Forscher gern ihr Bild zeichnen, der Wissenschaftsbetrieb bei weitem nicht war. Das gilt auch für das Innenleben der kommunistischen Partei in der Bundesrepublik, der DKP, obwohl das Bild der sozialistischen Länder, vor allem der SU und der DDR hier besonders ikonenhaft verzerrt wurde. Erwin Siemantel hat dagegen gesetzt, in vorsichtiger Form, wie es seine Art ist, aber wer hören konnte, vernahm es. Wie aber für uns alle, hatte Priorität die Grundrechtsverwirklichung hier im Kampf gegen die Berufsverbote, gegen die Einschränkung des Demonstrationsrechts, der Asylfreiheit, gegen die Raketenstationierung und später die Gefahr der Atomenergie, im Vordergrund stand die solidarische Unterstützung der kolonialen und neokolonialen Befreiungsbewegung in der Dritten Welt. Das war keine Ablehnung der Bundesrepublik, gar ein Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung, wie oft behauptet wurde, sondern für eine Bundesrepublik, die mehr den Anforderungen des Grundgesetzes entspricht, insofern für eine andere Republik ja.
Die VDJ der Bundesrepublik hat sich gleichzeitig für die volle völkerrechtliche Anerkennung der DDR eingesetzt. An diesem Kurs hat Erwin Siemantel aktiv zu einer Zeit mitgewirkt, als dies noch ausgesprochen verpönt war. Gewiß, von Kritik an den inneren Zuständen in der DDR war bei uns wenig zu hören, auch zu einer Zeit als die Repression dort offensichtlicher wurde. Mit dem besseren Wissen von heute mag man uns die schon erwähnte Einäugigkeit vorwerfen. Wir tun es selbst, Erwin Siemantel allen voran. Andererseits sollte man nicht vergessen, daß 1973 Pinochet, den man zur Zeit in London ein bißchen piekst, Allende zusammengebombt hatte, und noch 1989 lakonisch auf unsere Frage nach den Menschenrechten feststellte: „Menschenrechte - was ist denn das? Ach ja, natürlich eine Erfindung der Kommunisten." (Anm. 17). Als mich der chilenische Außenminister Schweitzer 1974 anläßlich einer Fact-finding Mission der IVDJ ironisch fragte: Macht Ihre Organisation derartige Untersuchungen auch in der Tschechoslowakei oder in Polen, überhörte ich die Frage diplomatisch. Meine Gefühle waren ganz anders, denn eine Stunde zuvor hatte ich den erschütternden Klagen von Müttern und Ehefrauen zahlloser Verschwundener hilflos auf einem Geheimtreff am Rande von Santiago zugehört. Soll ich mich dessen heute schämen oder das Versäumnis beklagen, nicht gleichzeitig die DDR angeklagt zu haben? Es stößt mir übel auf, ich gestehe es, wenn ich zur Kenntnis nehmen muß, daß im Bereich der Zeitgeschichte ein Drittmittelantrag für ein Projekt über Denunziation im Dritten Reich nur dann Aussicht auf Erfolg hat, wenn es die Denunziation in der DDR und die Auswertung von Stasi-Akten mit einbezieht.
Die Implosion des realen Sozialismus hat sicherlich tiefere Gründe als die an der Oberfläche erscheinende, nicht abzustreitende Mißachtung von Menschenrechten. Dürrenmatt formuliert es böse und scharf: Der Marxist mußte nicht mehr besser sein, sondern sollte besser leben können als der Kapitalist. Das ist der Anfangsgedanke, der das Ende einleitete. Aber dieser tiefer liegende Grund des Zusammenbruchs entlastet uns als demokratische Juristen nicht. Wir waren auf unserer Ebene, nämlich der Menschenrechte gefordert und sind ausgewichen. Auch, daß wir von der Richtigkeit unseres Tuns überzeugt waren, macht die Sache nicht besser. Eine Unschuld der Erinnerung? Wir sollten sie weder für uns noch für unsere Eltern in Anspruch nehmen!
Die Zeiten sind fortgeschritten, auch meine Zeit. Ich komme zum Schluß.
Die Probleme werden wichtig, die das Gute-Hirte-Spiel stellt, die Menschheit rutscht nach links, meint Dürrenmatt in der nochmals zitierten Schrift. Gute-Hirte-Spiel ist für ihn die Metapher für Sozialismus. Probleme, zu deren Lösung der Sozialismus angetreten ist und die er nicht lösen konnte, bestehen nach wie vor. Die alten Rezepte des Wolfsspiels - das ist die Metapher für Kapitalismus - haben nach der Mehrheitsmeinung in der Bundesrepublik wie in anderen europäischen Ländern ausgedient, wie die Wahlergebnisse zeigen. Ob die rot-grüne Koalition willens und fähig sein wird, diesem Mandat zu entsprechen, ist noch offen. Der Anfang in der Außenpolitik war jedenfalls nicht nur für Völkerrechtler niederschmetternd. Ich spreche vom Bundestagsbeschluß zur Bundeswehrbeteiligung an der NATO-Intervention im Kosovo.
Der Littenpreis steht uns gut an. Wir sind so weit weg von der Macht der Herrschenden wie eh und je, daher nicht korrumpierbar. Es geht uns besser als Dutschke, der sterben mußte, bevor er an die Macht kommen konnte, wie heute seine weniger genialen Weggefährten. Daher bleibt uns, ebenso wie dem kleinen Anwalt Litten, nur die Berufung auf das verbriefte Recht der Schwachen, manchmal so kläglich wie die Stimme derer, für die wir es einfordern. Unsere Preisträger haben sich abgemüht, damit das verbriefte Recht nicht Brief bleiben möge. Wir danken ihnen.
Anmerkungen:
Prof. Dr. Gerhard Stuby lehrt Öffentliches Recht an der Universität Bremen
1) Vgl. Dürig, in: Maunz-Dürig, Komm. z. GG Art. 3 III Rz. 8 Anm. 2 (Stand: 1998)
2) WK 10.10.1998. Ein Vergleich von Fuß und Penis. Für ungewöhnliche Arbeiten wurde Anti-Nobelpreis vergeben.
3) Heinz-Joachim Fischer, Muntere Kormmunisten, in: FAZ 25.9.98
4) Friedrich Dürrenmatt, Gerechtigkeit und Recht. Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht. Nebst einem Helvetischen Zwischenspiel (Eine kleine Dramarturgie der Politik), Zürich 1969
5) Martin Walser, Ein springender Brunnen, zit. nach der Laudatio anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, von Frank Schirrmacher, FAZ 17.10.1998, Bilder und Zeiten
6) H. Klenner, Prof. Dr. Dr. h.c. Wilhelm R. Beyer zum 75. Geburtstag, NJ 1977, 246
7) Gerhard Haney, Werner Maihofer, Gerhard Sprenger, Recht und Ideologie. Festschrift für Hermann Klenner zum 70. Geburtstag, Band 1, Freiburg/Berlin 1996, 2. Band, ebenda 1998
8) H. Klenner, Ein Blick ins Buch, und zwei ins Leben. G. Birtsch, M. Trauth, I. Meenken. Grundfreiheiten - Menschenrechte, 1500 - 1850, in: Rechtshistorisches Journal, hrsg. v. Dieter Simon 13,1994, S. 133 ff. (134)
9) Ein neueres Beispiel Klaus Schröder unter Mitarbeit von Steffen Akisch, Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949-1990, Carl Hanser Verlag, München, Wien 1998, lobend besprochen von Arnulf Baring, in: FAZ 28.10.1998, S. 10 (zurück)
10) Wolfgang Schuller, Bes. von Recht und Ideologie. FS für Hermann Klenner (1. Band Anm.7) (zurück)
11) Martin Walser, Banalität des Guten, Erfahrungen bei Verfassen einer Sonntagsrede anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, abgedruckt in: FAZ 12.10.1998
12) nachzulesen bei Alexander v. Brünneck, Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949 - 1968
13) Als Beispiel sei der Band Klaus Dammann/Erwin Siemantel (Hrsg.) Berufsverbote und Menschenrechte in der Bundesrepublik, Köln 1987, der den ILO-Bericht zur Berufsverbotspraxis in der Bundesrepublik enthält. Sonst nirgends zu finden.
14) Wolfgang Kraushaar, Unsere unterwanderten Jahre. Die barbarische und gar nicht schöne Infiltration der Studentenbewegung durch die Organe der Staatssicherheit, in FAZ 7. April 1998, S. 45. Die Verunglimpfung von Wolfgang Abendroth wurde inzwischen öfters kritisiert: Frank Deppe, Zur Diskussion um Wolfgang Abendroth, in: Sozialismus 7/8/98, S. 17 ff (bezeichnenderweise nicht als Leserbrief von FAZ genommen); Joachim Perels, Die neue Herrschaft des Verdachts, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 10/1998, 1170ff. ; nicht behandelt ist die an Infamie grenzende Behandlung der Tätigkeit des ehemaligen Leiters des PRV Paul Neuhöffer in dem Artikel von Kraushaar.
15) Hermann Klenner. Zur Gegenwartskrise bürgerlicher Rechtsphilosophie, in: Neue Justiz 1974, S. 589ff.
16) Inzwischen wie Dürrenmatt auf jede schwach legitimierte Macht ausgedehnt H. Klenner, Was bleibt von der marxistischen Rechtsphilosophie?, in: Praktische Vernunft und Theorien der Gerechtigkeit. XV Weltkongreß der IVR (Hrsg. Maihofer, Sprenger), Stuttgart 1992, S. 1ff.(12)
17) Walter Haubrich, Menschenrechte - eine Erfindung der Kommunisten, FAZ 26.10.1998
Die laudatio ist entnommen: "ansprüche" 4/98