Türkische Regierung verbietet Anwaltsvereinigungen und lässt Rechtsanwält*innen festnehmen: Die Erdoğan-Türkei ist kein Rechtsstaat – es gibt keine Demokratie
Am 11. November 2016 hat das türkische Innenministerium im Zuge des Ausnahmezustandes 370 Organisationen und Vereinigungen in der Türkei verboten. Es hat u.a. ein 3-monatiges Betätigungsverbot gegen die fortschrittliche Anwaltsvereinigung ÇHD (Çağdaş Hukukçular Derneği), die Anwaltsvereinigung für die Freiheit ÖHD (Özgürlükçü Hukukçular Derneği) und die mesopotamische Anwaltsvereinigung MHD (Mezopotamya Hukukçular Derneği) verhängt und deren Geschäftsräume versiegeln lassen. Zudem wurden mehrere Rechtsanwält*innen unter massiver Gewaltanwendung festgenommen. Die Regierung beruft sich dabei auf Art. 11 des Ausnahmegesetzes und wirft den Organisationen vor, die nationale Sicherheit zu gefährden. Das Gegenteil ist der Fall:
Tatsächlich handelt es sich bei ÇHD, ÖHD und MHD um anwaltliche Vereinigungen, die sich seit Jahrzehnten für die Durchsetzung von Menschen- und Bürgerrechten in der Türkei einsetzen. ÇHD und ÖHD sind Mitglieder der 'Europäischen Vereinigung von Jurist*innen für Demokratie und Menschenrechte in der Welt' (EJDM/ELDH[1]). Die ÇHD ist zudem, wie der RAV, Mitglied des Dachverbandes der europäischen demokratischen Anwält*innen (EDA/AED[2]). Im Jahre 2014 wurde der ÇHD darüber hinaus von der Freiburger Kant-Stiftung der Kant-Weltbürger-Preis[3] und von der VDJ der Hans-Litten-Preis[4] für ihr Engagement für Menschenrechte und Demokratie verliehen. Sie setzen sich für die Rechte von Minderheiten, die Bekämpfung von Folter und Menschenrechtsverletzungen in der Türkei ein, nicht zuletzt durch erfolgreiche Beschwerden beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Die türkische Regierung verletzt mit diesen rechtswidrigen Angriffen auf ÇHD, ÖHD und MHD in schamloser Weise das Grundrecht der Vereinigungsfreiheit und die Grundprinzipien der freien Advokatur, wie sie von den Vereinten Nationen im Jahr 1990 als "Basic Principles on the Role of Lawyers" verabschiedet worden sind. Wenn Rechtsanwält*innen aus Angst vor Verfolgung nicht für die Interessen ihrer Mandant*innen eintreten können, kann von der Existenz eines Rechtsstaats keine Rede sein.
Erdoğan betreibt die endgültige Zerschlagung der oppositionellen Zivilgesellschaft in der Türkei.
Wir verurteilen diese rechtswidrigen Angriffe auf unsere Kolleginnen und Kollegen auf das Schärfste und fordern die unverzügliche Freilassung aller inhaftierten Rechtsanwält*innen und die unverzügliche Beendigung des Ausnahmezustandes und der damit einhergehenden Repressionen.
Mit der Verhängung des Ausnahmezustandes nach dem Putschversuch am 15. Juli 2016 hat die türkische Regierung systematisch Rechtsstaat und Demokratie abgeschafft. Mit der Entlassung tausender Richter*innen und Staatsanwält*innn, Staatsbediensteten, Lehrer*innen und Akademiker*innen, der Schließung freier Medien und der Verhaftung tausender Menschen - darunter auch Parlamentsabgeordnete - unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung macht die Erdoğan-Regierung eines klar: Es geht nicht um die Sicherung, sondern um die Abschaffung der Demokratie. Rechtstaatliche Verfahren sind nicht mehr möglich. Beschuldigte werden zum Objekt der Verfahren.
Dies sei nur beispielhaft anhand einiger Veränderungen dargestellt, die durch die Dekrete der Regierung nach Verhängung des Ausnahmezustands in Bezug auf die Rechte der Verteidigung Gesetzeskraft erhielten:
- Beschuldigte können bis zu 5 Tage in Incommunicado-Haft gehalten werden, also ohne Recht auf Kontakt zu einem Rechtsanwalt
- Beschuldigte können 30 Tage in Gewahrsam genommen werden, ohne einem Richter vorgeführt werden zu müssen
- Besuche der Verteidiger*innen bei ihren inhaftierten Mandant*innen können für einen Zeitraum von bis zu 6 Monaten verboten werden
- Alle Besprechungen zwischen inhaftierten Beschuldigten und ihren Verteidiger*innen sollen audiovisuell aufgezeichnet und vom Gefängnispersonal überwacht werden
- Alle Verteidigungsunterlagen können beschlagnahmt werden, auch ohne richterlichen Beschluss
- Verteidiger*innen können bei Besuchen ihrer Mandant*innen in der Haft durchsucht werden, auch in den Körperöffnungen
- Anwaltskanzleien können ohne Durchsuchungsbeschluss durchsucht und Mandantenunterlagen beschlagnahmt werden[5]
- Dort, wo die Bevölkerung durch Massensuspendierungen, Strafverfolgung, Inhaftierung, Folter und Entrechtung eingeschüchtert und mundtot gemacht wird, ist jeder Demokratie die Grundlage entzogen. Dort, wo Rechtsanwält*innen ihre Arbeit nicht ausüben dürfen, ist der Rechtsstaat Vergangenheit.
Die Bundesregierung kann vor dieser Entwicklung die Augen nicht verschließen.
Unsere Solidarität gilt allen, die in der Türkei für Demokratie, Menschenrechte und Freiheit eintreten.
Pressemitteilung von
- Europäischer Vereinigung von Juristinnen und Juristen für demokratie und Menschenrechte in der Welt (EJDM/ELDH)
- Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV)
- Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ)
- Vereinigung Berliner Strafverteidiger e.V.
- Strafverteidigervereinigung NRW e.V.
- Vereinigung Hessischer Strafverteidiger e.V.
- Arbeitsgemeinschaft Migrationsrecht im Deutschen Anwaltsverein (DAV)
- Organisationsbüro der Strafverteidigervereinigungen
Kontakt: Rechtsanwältin Franziska Nedelmann, Tel. +49-(0)30-54716772
[3] www.kantstiftung.de/index.php
[4] www.vdj.de/aktivitaeten/hans-litten-preis/nachricht/den-hans-litten-preis-der-vdj-2014-erhaelt-rechtsanwalt-selcuk-koza-286acli-praesident-des-chd/
[5] So die Mitteilung der Istanbuler Rechtsanwaltskammer vom 02.08.2016: http://www.istanbulbarosu.org.tr/Detail_EN.asp?CatID=57&SubCatID=1&ID=11671 für die Dekrete bis zum 2.8.2016