Wer Menschen integrieren will, darf sie nicht unter Generalverdacht stellen
Seit Monaten treibt dieses Land eine mit doppelter Schräglage geführte Integrationsdebatte um. Sie reduziert Integration einseitig auf von der Bundesrepublik Deutschland exklusiv definierte Bringe-verpflichtungen, denen die MigrantInnen zu entsprechen haben und hebt ausschließlich auf deren Integrationsdefizite ab.
Einwanderung und Integration ist ein komplexer wechselseitiger und gestaltungsbedürftiger Prozess zwischen der im Aufnahmeland ansässigen Bevölkerung und den eingewanderten Personen. Er setzt nicht nur bei Bedarf offene Grenzen voraus, sondern vor allem eine mentale soziokulturelle Offenheit für Menschen anderer Herkunft. Dies verlangt Strukturen und ein Bildungssystem, bei dem nicht der Werdegang von der Herkunft bestimmt wird und ein Politikkonzept, das neben breit organisierten niederschwelligen Angeboten zum Spracherwerb auf Chancengleichheit und Teilhabe abzielt.
Die Bundesrepublik Deutschland hat trotz systematischer Anwerbung von ausländischen ArbeitnehmerInnen seit Mitte der 50-er Jahre bis zum sog. Anwerbestop in den 70-er Jahren und weiterer danach stattgefundener millionenfacher Einwanderung unbeirrt verneint, Einwanderungsland zu sein - mit nachhaltigen Folgen. Personen aus sog. Drittstaaten außerhalb der Europäischen Union sind vornehmlich als Anknüpfungsobjekt ordnungsrechtlicher Reglementierung betrachtet worden, die auf der Doktrin fußte, kein Einwanderungsland im klassischen Sinn und somit nicht daran interessiert zu sein, dass AusländerInnen zu jedem beliebigen Aufenthaltszweck, auf unbestimmte Dauer oder gar auf Dauer sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Dieses Credo hat die Politik der Notwendigkeit enthoben, Integration als gesamtgesellschaftliche Aufgabe mit transparenten Zielvorgaben zu begreifen und hat gleichzeitig auch Einbürgerungen behindert.
Auch die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts hat diese Defizite nicht hinreichend kompensiert. Im Gegenteil hat das seit dem Jahr 2000 geltende Staatsangehörigkeitsrecht - entgegen den staatsangehörigkeitsrechtlichen Regelungen der großen Mehrheit der europäischen Staaten - die bestehenden Bindungen und Verbindungen zu den Herkunftsländern der MigrantInnen nicht positiv aufgenommen, gewünschte Mehrstaatigkeit nicht zugelassen und weitere Hürden errichtet.
Verfassungsrechtlich bedenklich ist insbesondere das nach § 10 I Nr. 1 StAG geforderte Bekenntnis zur freiheitlich demokratischen Grundordnung, weil unklar ist, welche Rechtsfolgen daran geknüpft werden sollen. Denn das kompromiss- und ausnahmslose Ausbürgerungsverbot des Grundgesetzes (Art. 16 I 1 GG) darf nicht durch eine Einbürgerungspraxis umgangen werden, die zu Restriktionszwecken gerade die tradierten Ausbürgerungskriterien verwendet, um so zu einer Ausbürgerung des Eingebürgerten wegen Verletzung der unbemessenen „Treuepflicht“ es gar nicht erst kommen zu lassen. Insoweit stellen die weit darüber hinaus greifenden Ausforschungen auf der Grundlage des baden-württembergischen Fragebogens und die hessische Testbatterie zudem eine Verletzung der verfassungsrechtlich geschützten Glaubens- und Gewissensfreiheit nach Art. 4 GG dar. Sie diskriminieren überdies durch tendenziöse Befragungsinhalte Menschen mit muslimischem Migrationshintergrund und stigmatisieren sie per se als unsichere Kantonisten. Dies verstößt sowohl gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 3 III GG als auch gegen die EU-Anti-Diskriminierungsrichtlinie. Abgesehen von inhaltlichen Unklarheiten entbehren die gesinnungsausforschenden Handreichungen mangels Eignung und Unverhältnismäßigkeit rechtsstaatlicher Grundlage.
Solange staatsbürgerliche Rechte und damit gleichberechtigte politische und gesellschaftliche Partizipation immer noch an den Erwerb der Staatsangehörigkeit des Einwanderungslandes gebunden ist, kommt es nach Auffassung der VDJ darauf an, nicht neue Zugangshürden für den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit zu errichten, sondern noch bestehende Bindungen an das Herkunftsland zu respektieren und ebenso wie bei EU-BürgerInnen Mehrstaatigkeit zuzulassen.
Sanktionen gegen unterstellte Integrationsunwilligkeit und eine parallel geführte „Wertdebatte“, die bewusst ausgrenzend und einengend sich auf angeblich „christliche Werte“ bezieht, senden falsche Signale aus und verlängern die Wahrnehmungsdefizite. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Einwanderungsland mit einer mulitkulturellen Gesellschaft, die nachhaltig den interkulturellen Dialog organisieren muss. Eine Wertedebatte kann sinnvoll sein, wenn sie sich auf die universell geltenden Menschenrechte bezieht.
Bundesvorstand der VDJ, Mai 2006