VDJ Info 05/2020 vom 24.03.2020

Unter Corona

Etliche individuelle und kollektive Freiheitsrechten - insbesondere Freizügigkeit und Versammlungsfreiheit - sind zwar nicht abgeräumt, aber einstweilen und zeitlich begrenzt ausgesetzt. Weitgehend in der Debatte um knappe bzw. endliche Ressoucen bei der Behandlung und Versorgung von am Corona-Virus Erkrankten ausgeblendet, ist der politische Beitrag beim Kaputtsanieren einschließlich rigider Privatisierung der Krankenhauser. In den Nachdenkenseiten thematisiert Winfried Wolf, dass Corona-Epidemie und die panischen und widersprüchlichen Maßnahmen zu deren Eindämmung dazu dienen, "die im Hintergrund ablaufenden massiven weltwirtschaftlichen Verwerfungen – und die Gefahr einer neuen Weltwirtschaftskrise – als das von einem Virus ausgelöste Resultat zu präsentieren".

Kontrovers fallen auch die Beurteilungen des Virologen Christian Drosten von der Charité und der Virologin Karin Mölling am Max-Planck-Institut in Berlin zur weiteren Entwicklung und den geeigneten Interventionen aus.

EU: Aufnehmen statt sterben lassen! Die Faschisierung Europas stoppen!

In einer Erklärung vom 17.03.2020, die vom Grundrechtekomitee, medico international, Seebrücke, RAV, borderline-europe initiiert und auch von der VDJ unterstützt worden ist, greifen die Organisationen die rigide Abschottung der EU und menschenunwürdige Zusammenpferchung von Zehntausenden Flüchtlingen auf den griechischen Inseln angesichts der Verbreitungsgefahr des Corona-Virus an: "Während Europäische Staaten zum Schutz vor der Epidemie ihre Grenzen schließen und selbst soziale Begegnungen von Kleingruppen unterbinden, ist das von der Austeritätspolitik und Wirtschaftskrise schwer angeschlagene griechische Krankensystem in keiner Weise in der Lage, bei einem großflächigen Krankheitsausbruch die notwendige medizinische Versorgung der Geflüchteten sicherzustellen".

Sie fordern u. a. die sofortige Evakuierung der Migrant*innen von den griechischen Inseln und aus überfüllten Lagern, effektive Schutzmaßnahmen gegen den Corona-Virus für Migrant_innen, sofortigen Stopp der staatlichen Gewalt und der Ermordung von Migrant*innen an den Außengrenzen, die Wiederherstellung des Asylrechts, rechtsstaatliche Asylverfahren und die Demilitarisierung der Außengrenze und die Einhaltung geltender Völker-, Menschen- und Europarechtlicher Vorgaben beim Umgang mit den ankommenden Menschen.

Bremen: VDJ fordert Aufhebung von unmittelbarem Zwang gegen minderjährige unbegleitete Schutzbedürftige

Ín Bremen wendet die von der Senatorin Stahmann (Bündnis 90/ Die Grünen) geleitete Sozialbehörde gegen minderjährige unbegleitete Schutzbedürftige zur Durchsetzung der Verteilung nach § 42b SGB VIII unmittelbaren Zwang an, nämlich "Fesselung von Händen und Füßen", falls die Kinder und Jugendlichen nicht "freiwillig" bei der Verbringung an den Ort der Zuweisung mitgehen.

Die VDJ fordert die sofortige Rücknahme der Verwaltungsanweisung und verurteilt diese verfassungs- und völkerrechtswidrige Regelung, die den Maßstab des Art. 104 GG und der UN-Kinderrechtskonvention verkennt, wonach das Kindeswohl zu beachten und selbstverständlich bei der Verhältnismäßigkeitsabwägung zu berücksichtigen ist. Abgesehen davon entbehrt die Verwaltungsanweisung einer Rechtsgrundlage, denn § 42 a Abs. 5 Nr. 1 SGB VIII regelt allein das Verfahren zur Verteilung, statuiert aber keine Mitwirkungspflichten. Auch die Anwendung der §§ 42 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 5, Abs. 6, 42 a Abs. 1 S. 3 SGB VIII ist hier rechtswidrig. Freiheitsentziehende Maßnahme sind nur zulässig, wenn Gefahr für Leib und Leben vorliegt. Wenn die Kinder und Jugendlichen sich bereits in Obhut des bremischen Jugendamtes befinden, liegen diese Voraussetzungen nicht vor.

Corona: Grundrechte im Ausnahmezustand

Nachdem das Bundesministerium für Gesundheit im Rahmen der Novellierung des Infektionsschutzgesetzes ("Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite") im ursprünglichen Entwurf am Datenschutz massiv geschraubt hat und ermöglicht werden sollte, Bewegungsdaten von Mobilfunkgeräten von den Netzbetreibern zu erhalten, ist das zwar vom Tisch. Der Bundesdatenschutzbeauftragte Kelber hat in seiner Stellungnahme vom 23.03.2020 diesen Grundrechtseingriff gleichwohl vorsorglich als völlig ungeeignet gerügt und generell die Eile kritisiert, unter der essentielle datenschutzrechtliche Bestimmungen im Windschatten einer Ausnahmesituation zur Disposition gestellt werden sollen und hat diverse beabsichtigte Neuregelungen mit verfassungsrechtlichen und europarechtlichen Vorgaben für unvereinbar befunden.

Einmal mehr hat sich Bayern an die Spitze bei der Einführung von Ausgangssperren - zunächst per Allgemeinverfügung inzwischen durch Verordnung - gesetzt. In diversen rechtlichen Stellungnahmen von Anika Klafki (Corona-Pandemie: Ausgangssperre bald auch in Deutschland?), Andrea Edenharter (Freiheitsrecht ade) und Thorsten Kingreen (Whatever it takes) wird neben fehlender aureichender Rechtsgrundlage, die Unverhältnismäßigkeit gerügt. Uwe Volkmann (Der Ausnahmezustand) geht die Ausnahmelage sehr grundsätzlich d. h. staatstheoretisch, verfassungsrechtich und rechtsphilosophisch an, nämlich welches (zerstörerische) Potential in einer Ausnahmesituation liegen kann und dass das Primat bei Entscheidungen bei der Politik liegen muss. Das lässt sich auch für die Funktionsfähigkeit der Parlamente fortschreiben, wie der Beitrag von Christoph Möllers (Über den Schutz der Parlamente in der Krise vor sich selbst) unterstreicht.

VG Schleswig: Untersagung der Nutzung von Nebenwohnungen zur Eindämmung von Infektionen mit dem Corana-Virus ist rechtmäßig

In mehreren einstweiligen Rechtsschutzverfahren hat das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht am 22.03.2020 (Az. 1 B 10/20, 1 B 11/20, 1 B 12/20, 1 B 13/20, 1 B 14/20) entschieden, dass die Allgemeinverfügungen der Kreise Ostholstein und Nordfriesland, die zur Eindämmung der Infektionen mit dem Corona-Virus die Nutzung von Nebenwohnungen in den Kreisen untersagen, rechtmäßig und sofort vollziehbar sind. Dabei hat das Gericht der im öffentlichen Interesse stehenden Abwehr von Gefahren für die Gesundheit der Bevölkerung und der Sicherstellung der Leistungsfähigkeit der medizinischen, insbesondere krankenhausärztlicher (Intensiv‑) Versorgung für die Bevölkerung ein überragendes Gewicht beigemessen. Das private Interesse der Antragsteller, in der Nebenwohnung zu verbleiben, überwiege das überragende öffentliche Interesse nicht. Insbesondere seien von den Antragstellern keine individuellen Umstände vorgetragen worden, die eine Nutzung ihrer Hauptwohnung im Einzelfall als unzumutbar erscheinen ließe.

In einem Votum im Verfassungsblog, der ein Nutzungsverbot einer Zweitwohnung im Landkreis Aurich betrifft, hält Alexander Thiele diesen Eingriff nicht durch das Infektionsschutzgesetz gedeckt und für unverhältnismäßig.

VG Köln: Polizei muss Kameras während der Versammlung abdecken

In einer Eilentscheidung vom 12.03.2020 hat das VG Köln (Az. 20 L 453/20) die Polizei verpflichtet, die Kameras für die Dauer der Versammlung zu verhüllen. Bereits die Präsenz der Kameras und die Möglichkeit staatlicher Beobachtung entfalteten eine abschreckende und einschüchternde Wirkung auf Versammlungsteilnehmer und griffen in deren Recht aus Art. 8 Abs. 1 Grundgesetz, sich frei zu versammeln, ein. Die Versammlungsfreiheit schütze nicht nur die Teilnahme an einer Versammlung, sondern auch die Art und Weise der Teilnahme. Für Versammlungsteilnehmer sei von außen nicht erkennbar, ob die Kameras ausgeschaltet seien, deshalb reiche auch eine Zusicherung nicht aus. Der Grund für die Installation der Kameras sei nicht entscheidend, weil es auf deren faktische Wirkung und nicht auf den Willen der Polizei ankomme. Der Antragsgegner habe keine Anhaltspunkte für eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung dargelegt, die eine Überwachung der Versammlung rechtfertigen könnten. Mit Blick auf die große Bedeutung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit sei die logistische Herausforderung des Abdeckens der Kameras der Polizei zuzumuten und etwaige Ausfälle der Kameras für folgende Tage seien durch andere, geeignete Maßnahmen aufzufangen.

Die gegen die Entscheidumg eingelegte Beschwerde hat das OVG NRW am 13.03.2020 zurückgewiesen (Az. 15 B 332/20).

Satire: Wann ist eine Organisation gemeinnützig?

Tobias Mann und Thomas Sieber klären in ihrer politschen Late Night im ZDF darüber auf, ab wann eine Organisation gemeinnützig ist.

Lesens- und Sehenswertes

In zweiter erweiterter Auflage erscheint zum 75. Jahrestages des Kriegesendes "Mörderisches Finale" - NS-Verbrechen bei Kriegsende 1945 von Ulrich Sander in der Reihe Kleine Bibliothek 129 im Papyrossa Verlag, € 16,90; ISBN 978-3-89438-734-1: Kurz vor der Befreiung wurden im Frühjahr 1945 tausende Nazigegner "ausgeschaltet". Gegen deutsche und ausländische Antifaschisten wie gegen Wehrmachtssoldaten, die sich am Wahnsinn nicht mehr beteiligen oder ihm ein Ende bereiten wollten, wurde ein groß angelegter Mordfeldzug in Gang gesetzt, um einen antifaschistischen Neubeginn nach dem Krieg im Keime zu ersticken.

Unter der Regie von Matti Geschonneck ist jüngst der Roman von Juli Zeh "Unterleuten" ganz ausgezeichnet verfilmt worden. Der im ZDF ausgestrahlte Dreiteiler ist in der Mediathek abrufbar.

Bereits schon im Februar in der ANSTALT ein instruktiver Beitrag zu rechten Terror-Netzwerken: Gemeinsam mit Bedenkenträger Till Reiners präsentiert Claus von Wagner die Ergebnisse der monatelangen Recherche an der berühmt-berüchtigten Anstaltstafel.

Termine - Veranstaltungen

Die Frühjahrstagung des Arbeitskreises am 28.03.2020 muss wegen der Corona-Epidemie abgesagt werden

Ebenso findet die Veranstaltung des Arbeitskreises Familienrecht/ Sozialpolitik am Sa, 25.04.2020 zu aktuellen Problemen des Kindschaftsrechts nicht statt.

Das Letzte

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