Festakt: 40 Jahre VDJ
„...wenn da nur Unrecht war und keine Empörung“
Bertolt Brecht, An die Nachgeborenen
Gegen den Strom – für Demokratie und soziale Gerechtigkeit
Festveranstaltung der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen am Samstag, den 15.09.2012 um 14.00 Uhr im Literaturhaus, Frankfurt/M
Das Fest
Als die VDJ vor 40 Jahren am 25. März 1972 in Düsseldorf als parteipolitisch unabhängige und berufsübergreifende Organisation gegründet wurde, war ein innenpolitisches Konfliktfeld aufgerufen, das über Jahre die Verfassungswirklichkeit und das herrschende Demokratieverständnis dieser Republik prägte: Der Kampf gegen die Berufsverbote. Damit war auch das Verfassungsverständnis thematisiert. Es ging um nichts weniger als die Definitionsmacht über den Verfassungsrahmen, nämlich ob das Grundgesetz als systemoffen und dynamisch „darauf angelegt (ist), den materiellen Rechtsstaatsgedanken der Demokratie, also vor allem den Gleichheitssatz mit dem Teilhabegedanken im Selbstbestimmungsgedanken auf die Wirtschafts- und Sozialordnung auszudehnen und dem Sozialstaatsgedanken realen Inhalt zu verleihen“ (Wolfgang Abendroth).
Theoretisch wie praktisch hat die VDJ in den 40 Jahren ihres Bestehens sich konsequent für die Verteidigung von BürgerInnenrechten und Flüchtlingsschutz eingesetzt, gegen Überwachung und Vorratsdatenspeicherung, gegen Rassismus und Diskriminierung sowie für Frieden und internationale Solidarität.
Zentrale Bedeutung hat für die VDJ das Engagement für den Erhalt arbeits- und sozialrechtlicher Normen und gegen neo-liberale Flexibilisierung und Deregulierung des Arbeitsrechts, denn ohne soziale Sicherheit ist auch die Freiheit gefährdet.
In Zeiten ökonomischer Krise und Kollaps der Finanzmärkte droht eine Erosion demokratischer Institutionen, wie wir sie gerade erleben. Mit der Jubiläumsveranstaltung will die VDJ auch einen aktuellen Debattenbeitrag für Eckpunkte fortschrittlicher Rechtspolitik in diesen Zeiten leisten.
Festprogramm
ab 13.00 Uhr: Einlass
14.00 Uhr: Begrüßung und Eröffnung Rechtsanwalt Dieter Hummel, Bundesvorsitzender
14.15 Uhr: Rechtspolitischer Vortrag und Diskussion Prof. Dr. Andreas Fisahn, Universität Bielefeld “Geht Recht (noch) links?” Eckpunkte fortschrittlicher Rechtspolitik in Zeiten erodierender demokratischer Standards
15.45 Uhr: Kaffeepause
16.15 Uhr: Debattenquartett mit Plenardiskussion „Widerstand und Solidarität“ Berichte von der täglichen Gegenwehr mit
- Rechtsanwalt Sönke Hilbrans, RAV, DVD
- Rechtsanwalt Jens Peter Hjort, VDJ – AK Arbeitsrecht
- Marei Pelzer, Rechtspolitische Referentin Pro Asyl
- Dr. Miriam Saage-Maaß, Stellvertretende Legal Director ECCHR Moderation: VRiLAG Martin Wenning-Morgenthaler, NRV
18.00 Uhr: Pause
18.15 Uhr: Grußwort des Vorsitzenden der EJDMProf. Dr. Bill Bowring
18.30 Uhr: Verleihung des Hans-Litten-Preises 2012 an Gareth PeirceProlog: Rechtsanwältin Anna Bauer, Bundesvorsitzende der VDJ Laudatio: Prof. Dr. Norman Paech Erwiderung der Preisträgerin: Gareth Peirce
ab 20.00 Uhr: Buffet mit Schwof im Restaurant Goldmund und Foyer
Es spielt die Robert Cotton Band
http://www.robertcottonband.com/
"... denn die VDJ war bereits im Geburtszeitpunkt eine gescheite Sache..."
Begrüßungsrede zum 40. Geburtstag der VDJ
von Rechtsanwalt Dieter Hummel, Bundesvorsitzender
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,liebe Freundinnen, liebe Freunde,
ich darf Sie im Namen der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen sehr herzlich zu unserer heutigen Geburtstagsfeier begrüßen.
Die VDJ ist 40. Sie ist damit in einem Alter, in dem in meiner Herkunftsgegend behauptet wird, dass dies die entscheidende Zäsur für die Frage sei, ob man "gescheit" wird oder nicht in alle Ewigkeit. Ich denke, ich kann für das heutige Geburtstagskind behaupten, dass es sich insoweit um ein biologisches Wunder gehandelt hat, denn die VDJ war bereits im Geburtszeitpunkt eine gescheite Sache.
1972 gegründet mit dem Anspruch in der Bundesrepublik für eine demokratische, linke Rechtspolitik zu kämpfen und Einfluss zu nehmen auf gesellschaftliche Verhältnisse. Man muss an einen entscheidenden staatlichen Repressionsakt, der nicht unwesentlich zur Gründung der VDJ beigetragen hat, erinnern, die Berufsverbote.
Noch heute schwärt die Wunde, die die Berufsverbote geschlagen haben. Die Opfer sind nicht rehabilitiert, sie haben ihr Leben lang unter der ungerechtfertigten Verfolgung gelitten. Auch heute unterstützt die VDJ den Kampf um Rehabilitierung.
Für 40 Jahre VDJ stehen Stichworte, die gleichzeitig Themen der Auseinandersetzung beschreiben:
Friedensbewegung und Internationale Arbeit. Ich erinnere an die Aktion in Mutlangen und die dortigen Blockaden. Ich erinnere aber auch an die Kriege unter deutscher Beteiligung von Jugoslawien bis Afghanistan. Hier wird es auch zukünftig unsere Aufgabe sein als mahnende Rufer auf die völker- und verfassungsrechtliche Situation hinzuweisen, wie auch Stellung zu nehmen zu einer Militarisierung der Innenpolitik, die sich im Einsatz der Bundeswehr im Inneren zeigt und die das BVerfG nunmehr ja auch nicht mehr gänzlich verbietet.
Ich erinnere weiter an das Ende der Blockkonfrontation und der "Wiedervereinigung" Deutschlands. In diesem Zusammenhang hatten wir im Rahmen der fast schon legendären Konferenz in Kassel unsere Auseinandersetzung mit der Vereinigung demokratischer Juristinnen und Juristen der DDR zu führen. Eine Auseinandersetzung, die tief an das Selbstverständnis der unterschiedlichen Organisationen rührte und auf beiden Seiten viel Kraft gekostet hat. Eine Auseinandersetzung, die auch nicht ohne beidseitige Verletzungen abgegangen ist.
Ich erinnere zuletzt an die Auseinandersetzungen, die maßgeblich von der VDJ im Bereich des Arbeitsrechts als Abwehrkampf gegen den Versuch das Arbeitsrecht zu neoliberalisieren durch die Einführung eines von der Bertelsmannstiftung initiierten Arbeitsgesetzbuches, geführt wurden.
Über alldem schwebte und schwebt auch immer der Anspruch der einzelnen VDJ-Mitglieder, einer demokratischen beruflichen Alltagspraxis. Dies zeigt sich in der Auswahl von Mandaten. Dies zeigt sich aber vor allem darin, über den einzelnen Fall hinaus das ihm innewohnende allgemeine gesellschaftliche Problem nicht zu vergessen und dies immer wieder aufs Neue auch in den Verfahren zu thematisieren. Nicht zuletzt zeigt sich diese demokratische Berufspraxis aber auch darin, dass wir durch unsere Arbeitskreise, hervorzuheben sind die heute aktiven im Arbeitsrecht und Familienrecht, nachhaltig Einfluss auf die juristische Diskussion nehmen. Der Arbeitskreis Arbeitsrecht ist in der Zwischenzeit das wichtigste Diskussionsforum für fortschrittliche arbeitsrechtliche Fragen in der Bundesrepublik geworden.
Aber auch, wenn gilt "das Vergangene ist nie tot, es ist nicht einmal vergangen". Ein Zitat, von dem ich dank der umfassend literarisch gebildeten Ursula Mende nunmehr weiß, dass es nicht von Christa Wolf ist, sondern sie es bei William Faulkner gefunden hat, so genügt es doch nicht auf 40 Jahre eben auch erfolgreicher Arbeit zurückzublicken. Die Zeiten und mit ihnen die Themen, aber auch die gesellschaftliche und rechtspolitische Landschaft haben sich gewandelt. Nicht immer zum Besseren, aber auch nicht immer zum Schlechteren. Mit diesen Veränderungen werden wir uns stärke als dies in der Vergangenheit möglich war beschäftigen müssen und uns verstärkt um eine Zusammenarbeit bemühen müssen. Hier werden wir, abhängig von Themen, auf Akteure treffen, die wir kennen. Wir werden aber auch welche treffen, von denen wir es nicht vermuten. Und wir werden auf Akteure treffen, die neu sind und die sich Themen in einer völlig neuen Art und Weise widmen. Hier soll mit dem Debattenquartett die Diskussion eröffnet werden. Wenn dies gelingt, wird dies auch Auswirkungen sowohl auf die Inhalte als auch die Arbeitsweise unserer Organisation haben. Zu hoffen ist, dass es zukünftig zu einer vermehrten Zusammenarbeit kommt und wir unsere Kernkompetenzen in eine gemeinsame Arbeit einbringen können.
Aber nicht nur in der Innenpolitik leben wir in spannenden Zeiten. Wir erleben einen der tiefgehendsten Umbrüche des parlamentarisch demokratischen Systems in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa seit dem Ende des zweiten Weltkrieges.
Die Finanzkrise, die ja eigentlich eine Krise des Bankensektors ist und sich als soziale Krise auf die Menschen auswirkt, offenbart eine Vorstellung von "durchregieren" wollen, in denen eine parlamentarische Kontrolle eher als störend wahrgenommen wird. Der Satz "Krisen sind die Stunde der Exekutive" wird wieder hervorgeholt, um zu begründen, dass die Mitsprache des Parlaments bei entscheidenden Fragen, wenn überhaupt, nur noch sehr eingeschränkt greifen soll. Das Bundesverfassungsgericht hat in der jüngsten Vergangenheit hier mehrfach auf das Übel hingewiesen und milde korrigierend eingegriffen. Festzuhalten ist, dass wir uns mit dem hier intendierten Verlust von parlamentarischer demokratischer Kontrolle beschäftigen werden müssen. Wenn Herr Monti im Spiegelinterview meint, die Regierungschefs müssten "ihre Parlamente erziehen" und feststellt, dass es schädlich ist, wenn sich die Regierungen vollständig durch die Entscheidungen ihrer Parlamente binden ließen, so beschreibt er lediglich den Regierungsstil, der in Europa in der Zwischenzeit Platz gegriffen hat und den auch die deutsche Bundesregierung pflegt.
Darüber hinaus wird die Diskussion, nachdem das Bundesverfassungsgericht den Weg in die Fiskalunion frei gemacht hat und damit eine starke Integration Europas auf der Tagesordnung steht, darüber geführt werden müssen, wie ein demokratischen Europa gestaltet werden muss. Hier die deutsche Debatte um eine neue Verfassung und die europäische Diskussion um demokratische Legitimationen der Entscheidungen auf europäischer Ebene vorauszutreiben, wird eine Aufgabe der Zukunft sein. Dafür scheint mir die VDJ gut gerüstet. Über ihre Mitgliedschaft in den europäischen Strukturen der EJDM und über ihre Beteiligung am Aufbau eines Netzwerkes von Arbeitnehmeranwälten, die sich bereits intensiv in die Diskussion um die zukünftige Ausgestaltung der Mitbestimmungsrechte auf europäischer Ebene eingebracht hat.
Deshalb freut es mich sehr, dass wir heute nicht nur mit Freunden und Kollegen, Freundinnen und Kolleginnen aus allen Bürgerrechts- und fortschrittlichen Juristenorganisation, sondern auch mit unseren Freunden aus der EJDM diskutieren und dann auch heute Abend feiern können.
Ich darf nun Andreas Fisahn bitten uns zum Einstieg in die Veranstaltung mit seinem Vortrag klüger zu machen.
Geht Recht (noch) links?
Eckpunkte fortschrittlicher Rechtspolitik in Zeiten erodierender demokratischer Standards
von Prof. Dr. Andreas Fisahn, Universität Bielefeld
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
es ist natürlich sehr ehrenvoll für mich, zum 40jährigen Bestehen der VDJ den Festvortag halten zu dürfen. Mit Festvortrag hat jedenfalls Ursula Mende, als sie mich eingeladen hat, meine Aufgabe beschrieben.
Bei genauerem Nachdenken darüber, was denn wohl ein Festvortrag sein könnte, bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich dabei nur um eine contradictio in adjecto handeln kann. Entweder man feiert, oder man hört sich um Aufmerksamkeit bemüht einen Vortrag an. Hier sollte ich jetzt abbrechen. Aber dann würde ich das ganze Programm durcheinander werfen, also habe ich vorsichtshalber einen Vortrag ausgearbeitet - m. E. aber ganz ohne Fest.
Geht Recht (noch) links? ist meine Fragestellung. Ich will erst der grundsätzlichen Frage nachgehen: "Geht Recht links?", also "Geht Recht überhaupt links?" Ich will also etwas Theorie betreiben. Dabei verstehe ich unter Theorie etwas anderes als das, was sich unter diesem Begriff in den juristischen Sprachgebrauch eingeschlichen hat - so etwa in das Öffentliche Recht mit der Subjektionstheorie: Die ist bei genauerem Hinsehen nichts anderes als eine Tautologie in zwei Sätzen. Im zweiten Teil des Vortrages gehe ich dann der Frage nach, "Geht Recht heute noch links?", mache mich also auf die Suche nach den aktuellen Bedingungen fortschrittlicher Rechtspolitik. Diese Frage kann im günstigen Fall unter Zuhilfenahme der allgemeinen Überlegungen beantwortet werden.
- Geht Recht links
Theorieproduktion ist von den materiellen Gegebenheiten abhängig, auch den lokalen. Hier drängt es sich geradezu auf, etwas zu Frankfurterisieren. (Ich bin neugierig, wie die armen Dolmetscher das übersetzen.)
Beim Frankfurterisieren spiele ich weniger auf den größten lebenden deutschen Sozialphilosophen an. Der hat bekanntlich mit einem grandiosen theoriegeschichtlichen Irrtum seinen "Durchbruch" geschafft. Im Jahre 1973 war der Kapitalismus weder spät noch hatte er rückblickend nennenswerte Legitimationsprobleme. Die stellen sich, wenn, dann heute. Für die etwas jüngeren unter uns: Ich nehme Bezug auf Habermas Buch "Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus".
Geht man aus vom Bielefelder Original, also von Luhmann, der in Frankfurt mit etwas Kant, Kommunikation und Moralinsäure angereichert wurde, dann ist schon die Frage nach linker Rechtspolitik verfehlt. Es handelt sich bei Recht und Politik offenkundig um zwei verschiedene gesellschaftliche Subsysteme, die jeweils mit einem eigenen Code kommunizieren - mit Recht und Unrecht einerseits sowie Macht und Nichtmacht andererseits. Und die verstehen sich bekanntlich nicht. Dieser Saal wäre eine Kommunikationsarena sui generis - etwa eine Mischung zwischen Fußballstadion und Basketballfeld. Wir könnten uns nicht einmal einigen, ob das Runde ins Eckige muss oder ins Hängende. Rechtspolitik kann man dann nur noch so verstehen, wie sie eine heruntergekommene "Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristen" betreibt, nämlich nach dem Motto: "Wie sichere ich der Justiz finanzielle Ressourcen, um meine Karriere voranzutreiben?"
Im Ernst: Mitten in der Krise ist natürlich auch von Ökonomie zu reden. Dieses Subsystem scheint besonders resistent gegen Irritationen aus der Politik. Das Kommunikative Handeln soll anderswo stattfinden und die Folgen der Ökonomie abfedern. Hier finden sich geradezu christliche Motive wieder: "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist," aber übet ansonsten Nächstenliebe - nur ist der moderne Kaiser der Finanzmarkt.
Die Botschaft hat nach 2000 Jahren offenbar ihre Wirkung verloren. Der moderne Mensch scheint anders zu reagieren, nämlich nach dem Motto: Was scheren mich strukturelle Kopplungen von Politik und Ökonomie, lasst uns der Dekadenz frönen. Oder frei nach Wolfgang Niedecken: "Wat jitt uns die Sintflut ahn, sulang mer he noch danze kann? Joot, dat Plaatz ess om Vulkan."
Das wäre konsequent, wenn man annimmt, dass das Subsystem Ökonomie vom Subsystem Politik entkoppelt ist und nur seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt. In der linken, emanzipatorischen Tradition ist diese Entkoppelung aber nur relativ und keineswegs evolutionärer Fortschritt, sondern eine gesellschaftliche Entwicklung, die es zu überwinden gilt. Linke Rechtspolitik definiert sich auch durch das Anliegen, das Primat der Politik über die Ökonomie herzustellen.
Wechseln wir also in einen anderen Frankfurter Dialekt. Aufgegriffen wurde in dieser Theorieproduktion die Rechts- und Staatstheorie von Eugen Paschukanis, die in den 1970er Jahren in der sog. Ableitungsdebatte durchaus etwas Untotes an sich hatte. In der neueren Diskussion wurde der alte Paschukanis von Joachim Hirsch, Sonja Buckel oder John Kannankulam etwas mit Poulantzas angereichert und begründete ein Comeback marxistisch inspirierter Staats- und Rechtstheorie, was sehr erfreulich ist. Mir geht es heute um einen wesentlichen Aspekt dieser "Schule". Recht und Staat werden in diesem Diskurs als Element einer gesellschaftlichen Formation oder Struktur begriffen. In der Geschichte - man ahnt es - ließen sich verschiedene gesellschaftliche Formationen unterscheiden, die jeweils eigene soziale Formen hervorbringen. "Soziale Form" ist etwas anderes, schreibt Hirsch, "als der abstrakte Ausdruck für 'Institution' ... Vielmehr ist es so, dass die sozialen Formen als Ausdruck gesellschaftlicher Widersprüche Institutionalisierungsprozesse begründen, unterstützen und begrenzen, aber nicht eindeutig determinieren ... Der Begriff soziale Form bezeichnet somit den Vermittlungszusammenhang zwischen gesellschaftlicher Struktur - dem Vergesellschaftungsmodus - sowie Institutionen und Handeln."1 Etwas klassischer würde man formulieren: verschiedene Gesellschaftsformationen sind mit unterschiedlichen Herrschafts- und Legitimationsmechanismen und -institutionen verbunden. Die gegenwärtige gesellschaftliche Formation wird gemeinhin als Kapitalismus bezeichnet. Recht und Staat sind Teile dieser Formation oder umgekehrt: Der Kapitalismus konstituiert und bringt die sozialen Formen Recht und Staat erst hervor. Wenn diese Hypothese richtig ist, wäre die Konsequenz offenkundig: Dann ist mit diesem Recht - jetzt hätte ich beinahe gesagt - kein Staat zu machen. Das Gegenteil stimmt: Mit Recht, der sozialen Form des Gesetzes, ist nur der kapitalistische Staat zu machen. Und der Staat ist zwingend kapitalistisch. So folgert Hirsch: "Der Staat der bestehenden Gesellschaft ist also aus strukturellen Gründen 'kapitalistisch', und nicht allein deshalb, weil er direkten Einflüssen des Kapitals unterworfen ist. ... Der Staat ist als Bestandteil der kapitalistischen Produktionsverhältnisse unmittelbar mit diesen verbunden. Es ist daher unmöglich, dieses Produktionsverhältnis mittels des Staates im Kern zu verändern."2 Das heißt dann logischerweise weiter: Das Recht ist zumindest auch Grenze einer emanzipatorischen Politik. Das bezieht sich nicht auf einen bestimmten Inhalt des Rechts, sondern die Rechtsform selbst, d.h. das allgemeine Gesetz. Die Rechtsform muss verhaftet bleiben, so die Annahme, in der Herrschaftslogik der kapitalistischen Gesellschaft.
Wie kommt man zur These der Formbestimmung? Recht und Staat seien notwendiger Bestandteil einer Marktgesellschaft. Der Warenaustausch auf dem Markt ist keineswegs voraussetzungslos. Er impliziert die Anerkennung des anderen Warenbesitzers als frei - zu verkaufen oder es eben zu lassen - und gleich - der Preis wird durch die Ware, nicht durch die soziale Stellung des Warenbesitzers bestimmt. Kurz: Das Marktgeschehen braucht die bekannten Regeln des Zivilrechts, damit annähernde Äquivalente ausgetauscht werden; damit nicht Lug und Trug oder nackte Gewalt das Marktsystem, dass dann wohl keines mehr wäre, beherrschen. Das zoologische Individuum konstituiert sich auf dem Markt als Rechtssubjekt. Schließlich braucht man den Staat, um die Regeln des Marktgeschehens im Zweifel mit Gewalt abzusichern. Weil Recht und Staat spezifische Erscheinungen oder Formen des Kapitalismus sind, meinte Paschukanis, in der Sowjetgesellschaft sterbe nicht nur der Staat, wie von Marx und Engels prognostiziert, sondern auch das Recht ab. Das ist natürlich nicht das Problem der Frankfurter heute: aber wenn Recht und Staat soziale Formen des Kapitalismus sind, erübrigt sich der Marsch durch die Institutionen. Hirsch fordert einen "radikalen Reformismus" neben oder gegen Staat und Recht und nicht in oder mit ihnen, eine Synthese von Revolution und Reform - wie immer die genau aussehen soll.
Aus ganz anderer Perspektive hat Max Weber die Formbestimmung des Rechts durch den Kapitalismus in gewisser Weise bestätigt. Der kapitalistische Geist erzeuge eine formale Rationalisierung aller Lebensbereiche. Die Ökonomie funktioniere im Kapitalismus nach dem Prinzip der Rechenhaftigkeit, bei der die rationalste, effizienteste Methode zur Gewinnerzielung gesucht wird. Heute spricht man vom homo oeconomicus, der rational Kosten und Nutzen abwägt und abwägen soll. Dem entspreche die formale Rationalisierung des kapitalistischen Rechts. Es abstrahiere von der materialen Gerechtigkeit und funktioniert - das muss ich hier nicht erklären - nach dem Prinzip der formalen Allgemeinheit. Diese verbietet es - auch das ist bekannt - Armen wie Reichen gleichermaßen, unter Brücken zu schlafen. Die rationale Lebensführung determiniere schließlich den Staat, der sich als bürokratischer Apparat und nicht mehr wie im Feudalismus als persönliches Herrschafts-, Abhängigkeits- und Günstlingsverhältnis ausgestaltet.
Stimmen die Annahmen und Hypothesen? Um dieser Frage zu Leibe zu rücken, ist es sinnvoll, sich über die Begriffe Kapital und Kapitalismus zu verständigen. Kapitalismus scheint im ausgehenden neoliberalen Zeitalter eine Marktgesellschaft zu bezeichnen; eine Gesellschaft, die durch das Geschehen auf den Märkten geprägt oder gar durch "die Märkte" gesteuert wird. Das berühmte Buch von Marx heißt aber nicht "Der Markt", sondern "Das Kapital". Nehmen wir also an, das Kapital sei das bestimmende Moment kapitalistischer Gesellschaften. Mit Kapital bezeichnet Marx nicht ein mehr oder weniger großes Vermögen, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis; und zwar ein gesellschaftliches Verhältnis, das durch die Verwertung von Wert gekennzeichnet ist. Das ist ein Moment unter anderen, das hier aber besonders interessiert. "Geld heckt mehr Geld" - den Satz wollte ich immer meinem kleinen Neffen beibringen, als er sprechen lernte; er hat sich geweigert, dieses Geheimnis des Kapitalismus auszusprechen. Geld muss sich verzinsen oder wie es im Kapital heißt: aus G wird G'. Es scheint uns heute geradezu als anthropologische Konstante, dass Geld arbeiten und sich verzinsen muss. Das ist aber keineswegs so.
Diese Vorstellung, in der Geld vom allgemeinen Äquivalent des Tausches zu Kapital wird, ist uns mühsam phylogenetisch injiziert worden. Die drei großen monotheistischen Religionen des Orients normierten alle das Zinsverbot - und brachen es in der Reihenfolge ihrer Entstehung. Die antiken Römer und Griechen wollten ihre Ländereien vergrößern, das war mit Reichtum verbunden, nicht mit Verzinsung. Auch den mittelalterlichen Fürsten ging es um Landbesitz. Aus Geld, Gold oder anderen Kostbarkeiten wurden Schätze gebildet. Im Vordergrund stand der Gebrauchswert und nicht der Tauschwert. Das zünftige Handwerk produzierte für die Subsistenz und kannte zünftische Regeln zur Begrenzung des Reichtums. Erst die Generation meiner Großeltern schaffte den Sparstrumpf endgültig ab. Warum gingen also Piraten und Raubritter, anstatt Schätze anzuhäufen, sie zu vergraben und sich des Reichtums zu freuen, warum gingen sie dazu über, an der Börse zu spekulieren?
Marx beantwortet diese Frage m. E. nicht wirklich. Er analysiert scharf, warum der Kapitalist sich der Reproduktion des Kapitals auf immer höherer Stufenleiter nicht entziehen kann. Nämlich weil er sonst ganz simpel pleite geht. Bei Strafe des eigenen Untergangs ist das Kapital gezwungen, sich selbst zu verwerten, zu wachsen und dabei den Produktionsprozess zu effektivieren und zu rationalisieren. Die Konkurrenzordnung gebietet das! Kapitalismus hat also nicht nur die Dimension der Selbstverwertung, sondern auch die der Konkurrenzordnung. Aber wieso man von der Schatzbildung zur Selbstverwertung des Kapitals überging, bleibt unbeantwortet. Da ist gleichsam der Hegelsche geschichtliche Fortschritt am Werk: die Entwicklung der Produktivkräfte wälzt die Produktionsverhältnisse um und schwupps landet man in der kapitalistischen Konkurrenzordnung. Wenn die Frage der Feuerbachthesen "Wer erzieht die Erzieher"? richtig gestellt ist, muss man auch fragen: "Warum gibt es eine Revolution der Produktivkräfte und nicht eine Reproduktion?" Die Dialektik von Subjekt und Objekt oder der gesellschaftlichen Praxis als gleichzeitige Reproduktion und Veränderung von Strukturen muss bei der Beantwortung diese Frage berücksichtigt werden.
Max Weber hat sich die Frage ausdrücklich gestellt: Wieso entsteht die kapitalistische Gesellschaft? Seine Antwort ist bekannt. Mit der protestantischen Ethik entstehe der Geist des Kapitalismus. Calvin und insgesamt die reformierten Kirchen, wie z.B. die Hugenotten, predigten Askese, Disziplin, Fleiß, also die Sekundärtugenden des Kapitalismus. Und man hoffte, die von Gott Auserwählten an ihrem irdischen Erfolg und Reichtum zu erkennen. Das veranlasste die neue Sekte, ihr ganzes Leben auf eine instrumentelle Vernunft, die rationale Kalkulation bei vorgegebenen Ziel, nämlich Reichtumserwerb, umzustellen. Die formale Rationalität hielt, so Weber, Einzug in alle Lebensbereiche - neben der Ökonomie auch in Recht und Staat.
Horkheimer und Adorno - noch einmal Frankfurter, vielleicht die eigentlichen - datieren den Sündenfall der instrumentellen Vernunft weit vor die Reformation. Die instrumentelle Vernunft trat ihren Siegeszug an, als Odysseus sich an den Mast binden ließ, um dem Gesang der Sirenen zu lauschen, während er den Ruderern die Ohren mit Wachs verstopft. Danach ist die Geschichte Verfall, der Sieg der instrumentellen Vernunft über die objektive Vernunft. Weber zeichnet dagegen noch eine Fortschrittgeschichte, auch wenn er befürchtet, dass die bürokratische Herrschaft ein stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit produziert. Lassen wir das hier noch einmal offen.
Es ist sicher nicht nur Zufall, das die Reformation dem Kapitalismus um - weltgeschichtlich betrachtet - wenige Jahre vorausging und sich der Kapitalismus zunächst in den reformierten Ländern durchsetzte, während die katholischen und orthodoxen Gebiete abgehängt wurden. Aber monokausale Erklärungen sollten immer Misstrauen wecken, und inzwischen sind eine Reihe von Elementen erforscht, die der protestantischen Ethik an die Seite gestellt werden können und so ein Ensemble von ökonomischen, sozialen, kulturellen usw. Faktoren bilden, welche das historische Fundstück Kapitalismus hervorbringen.
Leo Kofler hat die Bedeutung der mittelalterlichen Städte für die Entstehung von Handel und Bankkapital hervorgehoben. Hans-Georg Conert schließt daran an und datiert die Entstehung von Fern- und Großhandelskapital, das schon nach Gesichtspunkten der Selbstverwertung arbeitete, ins 13. Jahrhundert, also vor die Reformation. Dem Fernhändler ging es nicht um die Ansammlung von Gebrauchswerten, sondern um die Vermögensvermehrung. Von diesem "kapitalistischen Geist" innerhalb einer feudalen Ordnung lassen sich Linien bis in die kapitalistische Gesellschaft ziehen. Die Kalkulation des Handelskapitals wird verallgemeinert und auch die Produktion wird als Verwertungsprozess organisiert. Heide Gerstenberger hat aus kritischer Perspektive auf die Rolle der Militärtechnologie und -organisation hingewiesen, die eine technische Rationalisierung vorantrieben. Michel Foucault hat detailliert die Mechanismen der Selbstdisziplinierung erforscht und nachgezeichnet, die als Voraussetzung für die Disziplin der kapitalistischen Fabrik gelesen werden können.
Uns interessiert aber Recht und Staat. Die formale Rationalität des Rechts ist älter als der Kapitalismus, wenn sie während des Mittelalters auch ein Nischendasein führte. Formal rationales Recht begegnet uns schon in der Antike als Organisationsform des Marktgeschehens. Der spätrömische Codex Iustinianus normierte Zivilrecht in einer Form, an der die bürgerliche Gesetzgebung am Ende des 19. Jahrhunderts nicht vorbeikam. Das Mittelalter überdauert, hat formal rationales Recht in Form des Kirchenrechts, des kanonischen Rechts. Mindestens Teile dieses Rechts weisen die Merkmale allgemein bestimmter Regeln, die Form des allgemeinen Gesetzes auf, die Franz Neumann in den Mittelpunkt seiner Analysen gestellt hat. Dabei ist das Recht keineswegs um das Marktgeschehen gruppiert, sondern es ist gleichzeitig Legitimation, Organisation und Begrenzung der Herrschaft. Entsprechend lässt sich der Aufbau der katholischen Kirche als Urform bürokratischer, hierarchischer Verwaltung interpretieren. Ein Mittel dieser Form bürokratischer Herrschaft war das Zölibat. Dieses wurde durch das Konzil von Elvira 310 n.u.Z. eingeführt, um die kirchliche Disziplin zu erneuern. Und Kanon 33 des Konzils formulierte sauber unterscheidend zwischen abstraktem Tatbestand und Rechtsfolge: "Über die Bischöfe und Altardiener, dass sie sich nämlich ihrer Ehefrauen enthalten: Man stimmt in dem vollkommenen Verbot überein, das für Bischöfe, Priester, Diakone, d.h. für alle Kleriker, die im Altardienst stehen, gilt, dass sie sich ihrer Ehefrauen enthalten und keine Kinder zeugen; wer aber solches getan hat, soll aus dem Klerikerstand ausgeschlossen werden." Dies hört sich so an, als seien Ehefrauen noch erlaubt, nur nicht das Zeugen von Kindern.
Das ist für die Organisation der Kirche in der Tat zentral. Wichtig ist nicht die Ehe-, sondern die Kinderlosigkeit. Der "Klerikerstand" ist durch das Zölibat nur der Kirche verpflichtet, entwickelt keine Tendenzen zur Verselbständigung, d.h. zur Verfolgung eigener Interessen. Das macht ihn mit Webers bürokratischem Verwaltungsstab vergleichbar, der seine Geschäfte sine ira et studio führt. Und es unterscheidet ihn vom Lehnsempfänger des Mittelalters, der ein hohes eigenes Interesse entwickelte, das Lehen zu vererben, also zumindest eine eigentumsähnliche Position zu erlangen und zu perpetuieren. Anstelle der persönlichen Abhängigkeit und Privilegienwirtschaft entwickelte sich in der Kirche eine Form der rechtlich organisierten Hierarchie, die bis heute nicht durch den geringsten Anflug von Demokratie, gleicher Freiheit oder freier Gleichheit getrübt ist; eine Organisation; die keineswegs kapitalistisch organisiert ist, welche Schätze die Kirche auch immer angesammelt hat. Der Reichtum der Kirche blieb Schatz, Prunk und demonstrative Macht. Erst kürzlich hat der Vatikan das Prinzip der Verwertung verstanden, und wenn man Vatileaks Glauben schenkt, ist er damit gewaltig auf den Hintern gefallen.
Was schließen wir daraus? Nun zunächst, dass formal rationales Recht, die Rechtsform, nicht nur auf den Markt bezogen ist, d.h. aus dem Marktgeschehen abgeleitet werden kann. Dann verweist selbst die Homologie, also die strukturelle Abgestimmtheit von Markt und Recht nicht zwingend auf eine Formbestimmung des Rechts durch die kapitalistische Gesellschaft. Denn der Markt ist genauso wie das Recht älter als der Kapitalismus. Weiter weist die Rechtsform eben nicht nur eine Homologie zum Markt auf, sondern offenbar auch zur Hierarchie, zur bürokratisch, effektiven Form der Herrschaftsorganisation - auch wenn uns die Neoliberalen einreden wollen, Bürokratie sei nicht effektiv. Wenn überhaupt, ist sie nicht effizient. Es lässt sich eine gleich ursprüngliche Homologie von Recht und Markt wie von Recht und bürokratischer Hierarchie feststellen.
Beide Elemente finden sich dann in der kapitalistischen Gesellschaft: das Eden der Menschenrechte - wie Marx es formulierte - in der Zirkulationssphäre und die Despotie der Fabrik in der Produktion. Die kapitalistische Gesellschaft schafft sich nicht einen funktionalen Überbau in Form des formal rationalen Rechts. Wenn eine Kausalität auszumachen ist, schafft die formale Rationalität des Rechts eine Voraussetzung kapitalistischer Zirkulation und hierarchischer Herrschaft in Fabrik und Staat. Und nun behaupte niemand, das sei idealistisch: Wenn die katholische Kirche keine materiale Macht ist, wer oder was denn dann? Weiter lässt sich folgern, dass die Freisetzung der Logik der Selbstverwertung auf die Widersprüche des formal rationalen Rechts zurückgreifen konnte, d.h. sowohl die Homologie zum Markt wie die Adäquanz für die autoritäre Hierarchie nutzen konnte.
D.h. aber gleichzeitig, dass die formale Rationalität des Rechts über die in der Zeit gerade herrschende Organisationsform hinausweist. Sie erlaubt nicht nur die autoritäre Organisation der katholischen Kirche, sondern auch eine des kapitalistischen Staates; sie erlaubt nicht nur den marktförmigen Warentausch in mittelalterlichen Städten bei feudaler Produktionsweise, sie erlaubt auch die Organisation eines globalen kapitalistischen Marktes. Sie weist auch insofern über Gegebenes hinaus, als die Konstituierung eines freien und gleichen Rechtssubjekts den freien und gleichen Staatsbürger als Vorschein aufblinken lässt. Sie weist darüber hinaus, weil die formale Gleichheit irgendwann die Frage nach dem materialen Substrat aufwerfen muss. Insofern impliziert die Rechtsform - um mit Bloch zu sprechen - immer auch den Vorschein des Noch-Nicht-Seienden. Bloch war es auch, der irgendwo bemerkte, dass nicht jeder Widerspruch dialektisch ist, womit er sich nicht gegen sein eigenes Denken richten wollte. Übrigens: Wir Juristinnen und Juristen üben uns beständig in der banalisierten Form von Dialektik: objektive gegen subjektive Meinung und herrschend wird die vermittelnde.
Die Widersprüche sind in der Analyse auszuhalten in der Hoffnung, sie in der Praxis zugunsten der Emanzipation aufzuheben. Mit der Konstatierung von Widersprüchen vermeidet man, eine Fortschritts- oder Verfallsgeschichte zu schreiben, was theoriegeschichtlich sehr beliebt war, sich aber in der Praxis spätestens mit "Ochs und Esel, die den Sozialismus nicht aufhalten", erledigt hat. Allerdings ist mit der Entdeckung des Vorscheins eines Noch-Nicht-Seiendem in der Form des Rechts auch die Hoffnung verbunden, dass in dieser Rechtsform zumindest emanzipatorisches Potenzial steckt. Recht organisiert sowohl Freiheit des Marktes wie Despotie der Fabrik, es konstituiert formale Gleichheit bei materialer Ungleichheit, es organisiert Herrschaft und begrenzt diese gleichzeitig, es ist Ermöglichung und Begrenzung, es verweist auf die Aufhebung der Marktfreiheit durch die politische Freiheit und gleichzeitig lässt es die Option der Beseitigung politischer Freiheiten durch autoritäre Hierarchie offen.
Schließlich steckt im Recht auch Mimesis, also die Zurückerinnerung, nämlich an Gerechtigkeit. Dieses "Sich-wieder-Erinnern" legitimiert einerseits ungerechte Herrschaft, die sich auf Recht beruft. Gleichzeitig weckt es die Erinnerung an Gewesenes, Zustände der Gerechtigkeit, die als Leitbilder der Zukunft fungieren und nachgelebt werden können.
Ich gebe zu, dies war eine kleine Zumutung. Ich bin halt frei nach dem Handballlied der Höhner verfahren, "Wenn nicht jetzt, wann dann. Wenn nicht hier, wo sonst?" Im günstigsten Fall, sagte ich eingangs, lassen sich aus den theoretischen Überlegungen Folgerungen für die aktuelle Situation entwickeln. Versuchen wir es also, kommen wir zum zweiten Teil der Frage: Geht Recht noch links
- Geht Recht noch links
Wenn Sie mir bei den grundsätzlichen Überlegungen soweit gefolgt sind, dann ergibt sich, dass - anders als oben vorgestellt - die Rechtsform durchaus offen ist für eine emanzipatorische Politik. Wir müssen uns also die Mühe machen, auch noch die zweite Frage zu beantworten. Linke Rechtspolitik ist nach den obigen Ausführungen kein grundsätzlich vergebliches Unterfangen. Aber Hirsch hat durchaus recht mit seiner Warnung vor dem Marsch durch die Instituitonen. Das Recht und seine Institutionen sind selbstverständlich verhaftet in dieser Gesellschaft. Sie entwickeln zwar keinen abgeschlossenen eigenen Code in einem autopoietischen Subsystem, aber doch einen Eigensinn durch spezifische Strukturen, in die Resistenzen gegen emanzipatorische oder strukturverändernde Politik eingebaut sind. Das Recht funktioniert eben nicht so, wie es sich der gemeine Jurist befangen in seinem subjektiven Normativismus vorstellt: der Gesetzgeber ändert die Norm und schon wird alles besser oder schlechter.
Die Norm bricht sich an der Realität, wird eingebaut in Handlungen, die Strukturen produzieren und reproduzieren. Die Norm wird nicht eins zu eins umgesetzt. Auch die ökonomische Theorie des Rechts folgt einem deutlich zu simplen Schema, wenn sie glaubt, rechtliche Sanktionen werden als ein Element in die Kosten-Nutzen Rechnung des homo oeconomicus eingestellt. Resistenzen entstehen durch die Inkorporation von Strukturen, Verfahren und Ordnungen, welche die Subjekte in ihren Handlungen reproduzieren. Die Konstatierung einer Offenheit des Rechts für eine emanzipatorische Politik muss und sollte nicht zu einer naiven Vorstellung vom Veränderungspotenzial oder der Stärke des Vorscheinenden im Recht führen. Um es konkret zu machen: auch die neoliberale Konterrevolution brauchte ca. 30 Jahre, um die Errungenschaften des sozialen Interventionsstaates, wie er sich nach dem Krieg "im Westen" herausgebildet hatte, zurückzudrehen. Und so richtig weiß die Juristin - die mit dem großen "I" - auch heute noch nicht, wie bestimmte Formen des Vertragsmanagement in der Verwaltung rechtlich einzuordnen sind oder sie verheddert sich in der Abgrenzung von soft law und hard law.
Die Resistenzen gegen strukturelle Veränderungen wirken durchaus auch in diese Richtung. Dabei handelt es sich bei dieser passiven Revolution, um einen Ausdruck von Antonio Gramsci zu verwenden, also bei der neoliberalen Revolution von oben, um ein vergleichsweise einfaches Projekt. Die FDP formulierte das Programm in zwei Sätzen: "Steuern runter! Und: Wirtschaftspolitik wird in der Wirtschaft gemacht." Dagegen ist die Demokratisierung der Finanzindustrie und der Wirtschaft im Ganzen ein anspruchsvolles Unterfangen, insbesondere weil es keine Blaupause gibt. Fortschrittliche Rechtspolitik knüpfte richtigerweise immer an, an das Potenzial, das Noch-Nicht-Seiende in der Rechtsform, im allgemeinen Gesetz und natürlich auch an den Inhalt des Rechts, der aus emanzipatorischer Perspektive unvollständig bleibt. Die nur formale Gleichheit des Rechts wird verteidigt, weil sie, wie Franz Neumann gezeigt hat, immer auch eine ethische Dimension hat, gleichzeitig aber weiter getrieben in Richtung materialer Gleichheit. Denn ein gewisses Maß materialer Gleichheit ist eine Voraussetzung von Freiheit. Wer Angst vor dem Verhungern hat, ist offenkundig nicht frei. Und sie ist auch eine Voraussetzung der Demokratie - nur bei sozialer Absicherung ist demokratische Teilhabe möglich. Das haben unsere Altvorderen von Heller bis Abendroth immer betont.
Die formale Freiheit im Recht wird in der Tradition fortschrittlicher Rechtspolitik weiter getrieben zunächst in Richtung politischer Freiheit, also demokratischer Teilhabe. Deren Voraussetzung ist, das hat sich inzwischen herumgesprochen, die Existenz politischer und kollektiver Menschenrechte. Bei der politischen Demokratie machte fortschrittliche Rechtspolitik aber nicht halt. Fortschrittliche Rechtspolitik erweitert politische Demokratie konzeptionell zur sozialen Demokratie oder versucht, die Entwicklung weiter zu treiben zur Demokratisierung der Wirtschaft. Erst diese kann die Versprechen der Demokratie, angelegt in der Freiheit des Rechtssubjekts, nach gesellschaftlicher Selbstbestimmung einlösen. Politische Demokratie ist insofern halbiert, als die Zwangsgesetze ökonomischer Prozesse bewusst außerhalb der demokratischen Entscheidung stehen sollen. Fortschrittliche Rechtspolitik zielt ab auf die Vervollständigung der Demokratie durch Erweiterung des in der politischen Demokratie angelegten Versprechens der gesellschaftlichen Selbstbestimmung.
Wenn umgekehrt das Recht auch die Organisationsform der bürokratischen Hierarchie und autoritärer Herrschaft ist, gibt es nicht nur den Vorschein des Noch-Nicht-Seienden in der Rechtsform, sondern ebenso den Widerschein des Schon-Gewesenen, des überwunden Geglaubten. Fortschrittliche Rechtspolitik übernimmt deshalb immer auch die Funktion des Aufhebens im Sinne des Bewahrens oder Konservierens. Die Praxis emanzipatorischer Rechtspolitik hatte immer auch dieses konservative Moment, indem sie erkämpfte Freiheiten und Rechte verteidigte, indem sie also die Menschenrechte und politische Demokratie gegen autoritäre Angriffe zu schützen sucht.
"Also alles richtig gemacht!" könnten wir uns jetzt zufrieden mit der theoretischen Untermauerung dessen, was wir schon immer gemacht haben, zurück lehnen. Solche Zufriedenheit des Spießbürgers steht uns aber nicht. Einige Differenzierungen sind angebracht. In der Praxis lieferten die historischen Erfahrungen - wie könnte es auch anders sein - die Folien, vor deren Hintergrund fortschrittliche Rechtspolitik die Verteidigung definiert. Die Verteidigungslinie wurde und wird vor dem Hintergrund des deutschen Faschismus gezogen. Eine weitere Negativfolie bietet Poulantzas Diagnose der Entwicklung zum "autoritären Etatismus". Diesen charakterisierte er durch vier Elemente: Erstens durch die Machtverschiebung vom Parlament zur Exekutive; zweitens durch eine Verschmelzung der Gewalten bei gleichzeitigem Verlust der Verbindlichkeit des allgemeinen Gesetzes für den Staatsapparat; drittens durch einen Wandel der Parteien zu Transmissionsriemen bürokratischer Entscheidungen zu den Repräsentierten statt umgekehrt und viertens durch die Herausbildung von Machtnetzwerken neben den legalen Institutionen und staatlichen Organen. In der Entwicklung der liberalen Demokratie zum "autoritären Etatismus" würden die Institutionen und Formen der rechtsstaatlichen Demokratie nicht aufgegeben, aber in einer Weise modifiziert, die zu ihrer Entleerung und einem Übergang in eine autoritäre Staatsform führe. Poulantzas schreibt: "Ein gesteigertes Ansichreißen sämtlicher Bereiche des ökonomischen-gesellschaftlichen Lebens durch den Staat artikuliert sich mit dem einschneidenden Verfall der Institutionen der politischen Demokratie sowie mit drakonischen und vielfältigen Einschränkungen der sogenannten 'formalen' Freiheiten."3
Die Erosion demokratischer Standards ist gleichsam zum Allgemeingut der Gegenwartdiagnose geworden: Colin Crouch hat diese Ordnung mit dem populär gewordenen Begriff Postdemokratie auf den Punkt gebracht. "Der Begriff bezeichnet ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, Wahlen, die sogar dazu führen, dass Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf Signale, die man ihnen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten."4
Nun würde ich mir untreu, wenn ich nicht etwas Wein in das Wasser gießen würde. Ich will folgende Thesen im Ansatz entwickeln: Die Entleerung der Demokratie findet statt als Unterwerfung unter eine europäische Wettbewerbsordnung und den Verzicht auf europäische Demokratie. Dies ist aber bisher nicht verbunden mit einer fundamentalen Einschränkung persönlicher Freiheitsrechte, also einer autoritär-repressiven Wende. Erst in jüngster Zeit zeichnet sich der Weg in eine autoritäre Wirtschaftsregierung ab, der verbunden sein könnte mit autoritär, repressiven innenpolitischen Maßnahmen. Dadurch würde allerdings ein Widerspruch zur neuen Form der Produktivkraftsteigerung durch Individualisierung entstehen.
Poulantzas nahm sich 1979 das Leben. Mit der neoliberalen Entwicklung verabschiedete sich der Staat von der Kontrolle vieler Bereiche des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens. Auch wenn sich leicht Beispiele für die übrigen von ihm benannten Entwicklungen finden lassen, ist es problematisch, sie in der Gesamtschau als Weg in den autoritären Etatismus zu werten. Wir haben bis in die Gegenwart eher einen Substanzverlust der Demokratie bei gleichzeitiger Liberalisierung im Bereich der individuellen Lebensführung zu konstatieren: also eher eine Verstärkung der Freiheitsrechte als deren Abbau - jedenfalls soweit sie nicht auf substanzielle demokratische Partizipation zielen.
Das erste Problem liegt darin, dass sich fortschrittliche Rechtspolitik insbesondere in der bewahrenden Dimension vor allem auf den Nationalstaat bezogen hat. Das war vermutlich ein Fehler, weil unbemerkt blieb oder unter dem Mantel der friedlichen Einigung unbeachtet blieb, dass die neuen Gefahren für die soziale Demokratie von der suprantionalen Ebene ausgehen. Es ist gleichsam gerichtsnotorisch, dass die Europäische Union nicht das Niveau, besser würden man wohl sagen, nicht einmal das Niveau demokratischer Teilhabe in den Nationalstaaten erreicht hat. Es gibt kein einheitliches europäisches Wahlrecht, keine europäischen Parteien. Das Parlament wird nicht unter Beachtung des Prinzips gleicher Stimmgewichte gewählt und hat bis heute eher die Funktion einer zweiten Kammer. Denn nach wie vor ist der Rat, also Repräsentanten der Exekutive, das zentrale Gesetzgebungsorgan der EU. Die vom demokratischen Gedanken geforderte Repräsentation und Selbstgesetzgebung findet nicht statt.
Das BVerfG weicht deshalb aus auf Legitimation durch die nationalen Parlamente. Aber die Konstruktion der begrenzten Einzelermächtigung lügt sich selbst in die Tasche mit der Annahme, die nationalen Parlamente könnten die europäische Politik noch kontrollieren und legitimieren. Der Präsident des EuGH, Skouris, hat in seltener Offenheit erklärt, wie das System funktioniert: Europa habe Kompetenzen aufgrund des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung; wo die Grenzen liegen, bestimme der EuGH.
Ebenso wichtig ist die materiell-inhaltliche Dimension der Entdemokratisierung. Seit den 1980er Jahren wurde die Staatengemeinschaft in Europa Schritt für Schritt in eine neoliberale Wettbewerbsordnung überführt. Die EWG entwickelte sich von einer interventionistisch orientierten Zollunion zur wettbewerbsorientierten, neoliberalen Europäischen Union, in der nicht nur die Unternehmen, sondern auch die Staaten miteinander konkurrieren. Wo große Bereiche des Wirtschaftsrechts harmonisiert sind, findet Konkurrenz dort statt, wo eine europäische Harmonisierung rechtlich ausgeschlossen wurde: im Bereich des Steuerrechts und der Sozialsysteme. Dieser Wettbewerb kann nur zu einer Spirale nach unten führen - zu einem "race to the bottom" bei den Einkommens- und Unternehmenssteuern sowie den Sozialleistungen. Die von Abendroth geforderte Einheit der Wirtschafts- und Sozialpolitik findet in einem negativen Sinne statt. Die Determinanten werden von der europäischen Konstitution und Gesetzgebung erzeugt.
Die europäische Wettbewerbsordnung erhielt in den 1990er Jahren eine besondere Dynamik durch die Deregulierung der Finanzmärkte. Damit hat sich die Politik letztlich selbst zum Befehlsempfänger degradiert, der nur noch mit pawlowschen Reflexen auf die Signale des zum Subjekt avancierten Finanzmarktes reagieren kann. Diese Struktur der Finanz- und Wettbewerbsordnung hat direkt in die gegenwärtige ökonomische Krise geführt.
Gleichzeitig wurde die nationale Demokratie ihrer Substanz beraubt, weil das nationale Parlament auf die Restkompetenzen verwiesen ist. Werfen wir nur mal einen Blick auf die gegenwärtigen Aufreger der deutschen Politik, soweit sie wirklich national ist. Da rangieren ganz vorn so gewichtige Themen wie das Betreuungsgeld, die sog. Homoehe, das Beschneidungsurteil, der Bau des Stuttgarter Bahnhofs oder das Rauchverbot in Kneipen. Der Ankauf von Steuer-CDs ist nur spannend vor dem Hintergrund international deregulierter Finanzmärkte und auch die sogenannte Energiewende ist selbstverständlich durch europäisches Beihilfe- und Energierecht überformt. Bleibt als wichtiges nationales Thema nur das groteske Versagen des Verfassungsschutzes im Falle der NSU und anderer rechtsradikaler Terroristen - Terror fängt ja nicht erst bei Mord an. Was ist es anderes als Terror, wenn ein rechter Mob eine Gruppe von Indern prügelnd durch die Stadt jagt? Da findet politisches Theater statt, eine Fassadendemokratie, welche die europarechtlich erzeugten Sach- und Sparzwänge ebenso nur nachvollzieht, wie die von der Exekutive über Europa vorgegebene Normsetzung.
Diese europäische Wettbewerbsordnung und Fassadendemokratie war allerdings keineswegs verbunden mit erhöhter Repression und der Einschränkung individueller Rechte. Nur um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: das heißt nicht, dass es keine Grenzüberschreitungen, Rechtsverletzungen und Willkür seitens der Staatsapparate gibt. Aber ich behaupte, die Gesellschaft der Gegenwart ist mit Blick auf die individuellen Freiheiten liberale als diejenige der 1950er Jahre. Denn der neoliberale Kapitalismus braucht den flexiblen Menschen, wie ihn Richard Sennett beschrieben hat. Das heißt: Die neoliberale Entstaatlichung ist verbunden mit einer Entsolidarisierung und Atomisierung der Gesellschaft, die euphemistisch als Individualisierung gefeiert wird. Freigesetzt wurde so eine neue Produktivkraft. Das neoliberale Produktionsregime braucht nicht den normalisierten Körper, der sich äußerlich legal und normal verhält, seinen Dienst ordnungsgemäß tut, seine 40 Stunden abreißt und anschließend frei ist. Der neoliberale Kapitalismus verschlingt die Produzenten mit Haut und Haaren; er beansprucht ihren Körper und ihren Geist vollständig, braucht und verbraucht die Kreativität der Individuen, die deshalb nicht normalisiert, sondern freigesetzt und dadurch genutzt werden kann. Die kürzlich festgestellte eklatante Zunahme der Arbeit bis in die Nacht hinein ist nur ein empirischer Beleg.
Die homogene, normalisierte Masse der fordistischen Produktion wird individualisiert oder besser atomisiert und in dieser Individualität der neuen Form der Produktion, die die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit beständig durchbricht, untergeordnet. Der andere Teil der Gesellschaft wird ausgegrenzt, abgehängt und entwickelt in dieser Form des nicht eingegliederten Prekariats ebenfalls eine neue Dimension des Nicht-Normalen. Während die Fabrikarbeit des Fordismus mit der Stechuhr zu erfassen war, wird im flexiblen Kapitalismus der "Vertrauensarbeitszeit" die Arbeitsleistung individuell erfasst und überwacht. Die Stechuhr, die nur Anwesenheit, also äußere Normalität erfassen kann, wird ersetzt durch die computergestützte Erfassung der individuellen Arbeitszeit, der Überprüfung der Bildschirmarbeiter in ihrem individuellen und unterschiedlichen Arbeitsverhalten. Wenn der atomisierte Gesellschaftskörper des flexiblen Kapitalismus nicht nach dem Paradigma der Normalisierung funktionieren kann, sondern die individuelle Kreativität umfassend beansprucht, dann muss die Differenz, das Abweichende, der Unterschied, auch das Extravagante und Nonkonforme akzeptiert werden. Versuchen wir es mit einem Bild: Vor unserem Auge könnte erscheinen der extravagant gekleidet und frisierte Nachtarbeiter, der vom Hacker zum Computerspezialisten großer Konzerne aufgestiegen ist.
Der flexible Mensch funktioniert in scheinbarer Individualität und Autonomie als homo oeconomicus, der gerade in seiner scheinbaren Autonomie und Differenz der ideale Produzent ist. Das kann nur funktionieren bei einer vergleichsweise hohen Toleranz gegenüber unterschiedlichen Lebensformen und -entwürfen, also einer Liberalisierung der individuellen Lebensführung. Ob diese Atomisierung langfristig mit der Bestätigung von vorbewussten Ordnungen durch das Recht vereinbar ist, kann hier nicht geklärt werden. Die erste Frage müsste dann umformuliert werden in: "Funktioniert Recht überhaupt noch?" Das muss aber an anderer Stelle weiter gedacht werden.
Mit der Finanz- und Wirtschaftskrise, die sich gegenwärtig in der Euro- und Schuldenkrise fortsetzt, könnte ein rechtspolitischer Paradigmenwechsel verbunden sein. Die deutsche Bundesregierung betreibt in dieser Situation eine Politik der Krisenverschärfung und des Umbaus der EU in Richtung autoritärer Wirtschaftsregierung. Die verschiedenen Reaktionen auf die Krise, vom "Pakt für den Euro" über "sixpack" und EFSF bis zu ESM und Fiskalpakt, haben einen gemeinsamen Nenner: sie zielen auf eine zentralistische, europäische Kontrolle der Wirtschafts- und Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten oder zumindest der Euroländer. Van Rompuy und Schäuble haben die Marschrichtung offen formuliert. Letzterer erklärte: "Im Optimalfall gäbe es einen europäischen Finanzminister. Der hätte ein Vetorecht gegen einen nationalen Haushalt und müsste die Höhe der Neuverschuldung genehmigen."
Das ist eine autoritär-zentralistische Lösung, weil schon im Nationalstaat ein Finanzminister kein Vetorecht gegenüber dem Haushaltsrecht des Parlaments haben kann; ein "europäischer Finanzminister" ist noch weniger legitimiert als nationale Regierungen. Eine solche autoritäre Lösung beinhaltet die Gefahr, dass weitere demokratische und grundrechtliche Freiheiten außer Kraft gesetzt werden, um den unsozialen Kurs abzusichern. Der Weg in die autoritäre Wirtschaftsregierung könnte sich zu einem antidemokratischen, autoritären Regime in einzelnen Staaten der EU ausweiten. Nämlich dann, wenn den nationalen Regierungen kein Weg offen bleibt, als der Einsatz staatlichen Zwangs gegen die depravierte, sozial entwurzelte und verunsicherte Bevölkerung. Das gerät dann offenbar in Konflikt mit dem Individualisierungsschub, der oben beschrieben wurde. Emanzipatorische Rechtspolitik steht so vor der schwierigen Aufgabe, kollektive Rechte in einer Umgebung atomisierter Individuen zu verteidigen. Es braucht dann eine Neuformulierung des Individuellen und des Kollektiven. Gesucht werden müssen Wege der Organisation und Freisetzung von Differenz in Solidarität. Das funktioniert nicht mit alten Konzepten der Klassensolidarität oder der Einheit der Arbeiterklasse. Hans-Jürgen Urban, ich kehre zurück zum frankfurterisieren, setzt deshalb auf eine gleichberechtigte "Mosaiklinke", in die unterschiedliche Traditionen, Interessen, Kulturen und Wertvorstellungen oder Weltbilder einfließen können.
Abschließend noch ein Wort zu einer scheinbar progressiven EU-Politik, womit ich an den Ausgangspunkt meines Frankfurter Diskurses zurück komme. Habermas, Bofinger und Nida-Rümelin firmieren als neue Denkmanufaktur der SPD und setzen in einem Beitrag für die FAZ mit Blick auf die EU auf eine "Vertiefung der Integration". Dabei stellen sie die bisherige wirtschafts-, finanz- und sozialpolitische Architektur der Union einschließlich des Vorrangs der Haushaltsdisziplin und liberalisierter Finanzmärkte nicht in Frage. Die Alternative beschränkt sich auf eine "gemeinsame Haftung für Staatsanleihen des Euroraumes" bei Beschwörung des - mit der Bundesregierung geteilten - Mantras von der Fiskaldisziplin, für die eine "stärkere Koordinierung der Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik der Mitgliedsländer" erforderlich sei. Diese solle aber demokratisch abgesichert werden, indem "ein europäischer Gesetzgeber, der die Bürger (unmittelbar über das europäische Parlament und mittelbar über den Rat) vertritt", eine Politik der Umverteilung beschließen soll. Kurz: Rat und EP überwachen die nationale Haushaltsdisziplin, nicht ein europäischer Finanzminister. Gefordert wird eine supranationale Demokratie, deren Konturen aber im Unklaren bleiben und die nur negativ abgegrenzt wird: Sie dürfe sich nicht in einen Bundesstaat auswachsen, weil die Völker dazu noch nicht die erforderliche Solidarität aufbrächten. Wie das vereinbar ist mit einer Haushaltskontrolle durch europäische Institutionen bleibt unklar. Um eine demokratische Reform der Union auf den Weg zu bringen, solle ein Konvent einberufen werden, der die Verträge reformiert und eine neue Europäische Konstitution den Völkern Europas zur Abstimmung vorlegt. Das ist gut gemeint, aber gerade deshalb das Gegenteil von gut.
Die Fehlentwicklungen der EU werden mit diesem Vorschlag keineswegs korrigiert: Anstatt die desaströse Wettbewerbs- und Finanzmarktordnung in Frage zu stellen, soll sie auch im Vorschlag von Habermas usw. vertieft werden. Die Logik der unsozialen Wettbewerbsordnung wird nicht bezweifelt, vielmehr soll sie durch gemeinsame Staatsanleihen abgesichert werden. Gemeinsame Staatsanleihen können zwar eine kurzfristige Entlastung für die Kreditaufnahme einiger Länder erzeugen, aber der Mechanismus der leistungslosen Umverteilung wird ebensowenig angegriffen wie die Macht der Finanzmarktakteure, insbesondere der Banken. Eine Re-Regulierung der Finanzmärkte steht genauso wenig im Zentrum des Vorschlages wie eine Überwindung des Sozial- und Steuerdumpings in der EU. Die Vorschläge zur Demokratisierung der EU sind nicht ausgereift und schrecken vor der eigenen Konsequenz zurück: der Umwandlung in einen Bundesstaat, der dann auch für die Steuern und den eigenen Haushalt verantwortlich wäre. Das wäre jedenfalls die Konsequenz der Bezugnahme auf die Losung der US-amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung: "No taxation without representation!"
Eine Vertiefung der EU würde zum gegenwärtigen Zeitpunkt die falschen Strukturentscheidungen zusätzlich autoritär absichern; sie würde die Politik auf Kosten der überwiegenden Zahl der Menschen und zugunsten der Rentabilität der großen Unternehmen fortsetzen und verschärfen; sie würde in der falschen Prioritätensetzung fortfahren, Europa zur wettbewerbsfähigsten Region auszubauen.
Unter diesen Bedingungen und angesichts der gegenwärtigen Diskurse und Kräfteverhältnisse erscheint es wenig sinnvoll, einen verfassungsgebenden Prozess durch ein Konventverfahren einzuleiten. Voraussetzung für solch einen Prozess ist ein intensiver, tiefer, internationaler und rationaler Diskurs über die Perspektiven der EU. Erforderlich sind eine Neubesinnung und eine breite Diskussion über die Frage, "Wie wollen wir in Europa zusammen leben?" Ein solcher Diskurs findet im hektischen Treiben der Krisenreaktionen nicht statt. Deshalb fehlen die Voraussetzungen für ein verfassungsgebendes Konventverfahren. Fortschrittliche Rechtspolitik ist z.Z. darauf verwiesen, einen solchen neuen Diskurs über Europa zu beginnen.
Meine Frau hat das Manuskript für diesen Vortrag Korrektur gelesen und fasste ihn dann so zusammen: "Sehr schön, von den Hugenotten bis zu den Höhnern alles drin!" Schlimmer war ihre Bemerkung am nächsten Abend. Da sagt sie doch: "Jetzt habe ich zwei Tage nichts Vernünftiges gelesen." Da war ich schon etwas beleidigt. Aber wir haben intensiv über den Inhalt diskutiert und das sollten wir jetzt auch tun. Danke für die Aufmerksamkeit.
1 Hirsch, Materialistische Staatstheorie, S. 25, 41.2 Hirsch, Materialistische Staatstheorie, S. 26.3 Poulantzas, Staatstheorie, S. 231 f.4 Crouch, C.: Postdemokratie (Frankfurt 2008), S. 10.Crouch, C.: Postdemokratie (Frankfurt 2008), S. 10.
Grußwort zum 40. Jahrestages der VDJ
von Bill Bowring, President of ELDH
The programme says I must welcome you – but I want to thank VDJ for the very warm welcome they have given me and my colleagues from the European Lawyers for Democracy and Human Rights. This morning we had our Executive Committee meeting, with representatives from progressive lawyers’ associations in 9 countries. We have had a productive year, and are planning some exciting events.
I congratulate you all on your 40th anniversary. I also represent the Haldane Society of Socialist Lawyers in England, and we recently celebrated our 75th anniversary. ELDH is a youngster – the 20th anniversary is next year. It is really splendid that you have decided to award the Hans Litten Prize to my colleague Gareth Peirce, and I am proud to have nominated her. Professor Norman Paech will shortly inform you fully as to Gareth’s life and work. I want to add a few words.
What I admire particularly about Gareth Peirce is her sense of history. Her remarkable book “Dispatches from the Dark Side: On Torture and the Death of Justice” (Verso, 2010) contains articles written between 2008 and 2011, analysing the horrors of the death of justice in Britain from 2001. But she starts in 1637, with the arrest of John Lilburne, who was a Leveller.
The Levellers, who were later persecuted by Oliver Cromwell, were the first modern communists (see Eduard Bernstein, Kommunistische und demokratisch-sozialistische Strömungen während der englischen Revolution, J.H.W. Dietz, Stuttgart 1895; in English Cromwell and Communism.) John Lilburne was arrested on suspicion of smuggling subversive literature to England, and was tortured, and subjected to trial by secret evidence in a secret court – the Star Chamber.
He stood up fearlessly for legality and the liberty of the subject, the birthright of the English since Magna Carta in 1215. He was persecuted by Charles I and his radical regime. Charles I was intent on introducing an absolute monarchy on the French model. Lilburne remained in prison until 1642 when he was freed by the long Parliament, at the start of the English Revolution, which culminated in the execution of Charles I in 1649. We had a Republic in England for just 10 years, but Lilburne’s stand helped to make possible the civil liberties enjoyed in England until the 20th century.
There is a strong historical parallel. From 1979 we in Britain have suffered the governments of Thatcher, Major, Blair, Brown and now Cameron; and some extraordinarily reactionary Home Secretaries (Ministers of the Interior): the Conservatives Baker, Kenneth Clarke, and Howard; the Labour Party’s Straw, Blunkett, Charles Clarke, Reid, Smith, and Johnson; and now the odious Theresa May.
They were and are all, Conservative and Labour, radicals, intent on introducing into Britain an American neo-liberal project, in which the welfare state must be destroyed, trade unions smashed, local government undermined, and the state privatised. The UK is the European leader in all these respects. Above all, each of these governments has been wholly complicit in United States illegality- armed intervention, extraordinary rendition, the use of torture.
There have been cumulative programmes to destroy the legality and liberty which John Lilburne stood for. The Labour governments’ activities have been aptly summed up by our Haldane Society colleague Professor Keith Ewing in his The Bonfire of the Liberties: New Labour, Human Rights, and the Rule of Law (Oxford 2010). We have seen complicity in torture, and the use of secret evidence and secret courts.
Gareth Peirce has been a beacon of resistance to the destruction of liberty in Britain. And I am greatly looking forward to see Tony Blair arraigned for War Crimes at the International Criminal Court.