Erklärung

Keine Einschränkung der Öffentlichkeit in der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit

Stellungnahme von Arbeitsrechtlern/innen zum Referentenentwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit während der COVID 19-Epidemie

Die unterzeichnenden Anwältinnen und Anwälte, die allesamt im Arbeits- und Sozialrecht tätig sind, wenden sich energisch gegen die im Referentenentwurf vom 09.04.2020 vorgeschlagenen Veränderungen in den Prozessordnungen. Die Covid-19-Pandemie rechtfertigt keine derartigen Eingriffe.

1.
Der Grundsatz der Öffentlichkeit gehört zu den Prinzipien demokratischer Rechtspflege. Er bildet eine historische Errungenschaft, die ausgeht von der bürgerlichen Revolution und gerade im Lichte unserer Geschichte nicht leichtfertig geopfert werden darf. Auch die Rundfunk- und Pressefreiheit nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG verlangt die Saalöffentlichkeit. Dieser Grundsatz ist prominent verankert in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention und in Art. 14 Abs. 1 Satz 3 des UN-Zivilpakts (Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966 – BGB I 1973 II 1553). Für alle Gerichtsverfahren und –zweige ist daher der Grundsatz der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung und auch die Notwendigkeit, Urteile öffentlich zu verkünden, oberstes Gebot jeder Prozessordnung. Sowohl die Europäische Menschenrechtskonvention als auch der UN-Zivilpakt sind in Deutschland unmittelbar anwendbares Recht, das im Rang über den einfachen Gesetzen steht. Schon diese Verbürgung steht einer einfachgesetzlichen partiellen Aufhebung entgegen.

2.
Die in den Prozessordnungen gegenwärtig vorgesehenen Möglichkeiten zur Einschränkung des Öffentlichkeitsgrundsatzes sind in ihrer auf den Einzelfall angelegten Qualität keineswegs vergleichbar mit den vorgesehenen Maßnahmen des Referentenentwurfs.
Einschränkungen des unbedingten Öffentlichkeitsgrundsatzes sind nach geltendem Recht nur punktuell zulässig. Dass die teilweise Aufhebung der Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen ein Gebot „der nationalen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft“ darstellen würde, wird selbst von den Verfassern des Referentenentwurfs nicht behauptet. Aufgrund der menschenrechtlichen Verankerung des Öffentlichkeitsgrundsatzes verbietet sich vielmehr dessen auch nur befristete Einschränkung.

3.
Solche Einschränkungen wären auch unverhältnismäßig. Mit den einfachsten organisatorischen Mitteln (etwa durch strikte Wahrung des Abstandsgebotes durch entsprechendes Umstellen der Möblierung, Schutzmasken, zeitliche Abstände zwischen den Terminierungen etc.) können in den Gerichtssälen gesundheitliche Gefährdungen für die Prozessbeteiligten und die Richterschaft sowie des weiteren Justizpersonals ohne weiteres minimiert werden. Dem gegenüber stehen die im Referentenentwurf nicht thematisierten Nachteile einer Zuschaltung über Videotechnik.
Abgesehen davon, dass die technischen Vorkehrungen hierfür gegenwärtig nicht, jedenfalls nicht im ausreichenden Maße, vorhanden sind, kann der unmittelbare Eindruck, den nur eine mündliche Verhandlung verschafft durch noch so viel Technik nicht substituiert werden. Wie etwa sollen zugeschaltete ehrenamtliche Richterinnen und Richter die Glaubwürdigkeit von Zeugen beurteilen können, wenn sie nur über Videobild und –ton der Zeugenvernehmung folgen? Ehrenamtliche Richterinnen und Richter sind auch keine Richter 2. Klasse, sondern ebenso wie die Berufsrichter verpflichtet und berechtigt, sich für die Urteilsfindung ein unmittelbares Bild durch persönliche Teilnahme an den gerichtlichen Verhandlungen zu verschaffen.

4.
Es ist auch nicht einzusehen, warum Millionen Beschäftigte im Lebensmitteleinzelhandel, bei Lieferdiensten, im Transportgewerbe, auf Baustellen und im Nah- und Fernverkehr – ganz zu schweigen von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Gesundheitswesen und in der Altenpflege – arbeiten können und müssen, aber die Gerichte angesichts des verfassungsrechtlich verbürgten Justizgewährungsanspruchs elementare Grundsätze ihrer Tätigkeit – wenn auch gegebenenfalls nur befristet – aufgeben sollen.
Solche Veränderungen sind nicht nur evident unverhältnismäßig, da nur wenige organisatorische Schutzmaßnahmen nötig sind, um Gerichtsäle „Corona-fest“ zu gestalten. Vielmehr sind sie angesichts der dadurch außer Kraft gesetzten nationalen und internationalen Grundfesten eklatant rechtswidrig und demokratiefeindlich.
Wir fordern daher das Ministerium auf, den Referentenentwurf zurückzuziehen. Stattdessen sollten die Gerichte dabei unterstützt werden, geeignete organisatorische Vorkehrungen zu treffen, die zu ihrer Umsetzung keines Eingriffs in bürgerlich-demokratische Grundsätze bedürfen.

Arbeitskreis Arbeitsrecht der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e.V. in Zusammenarbeit mit den folgenden Fachanwältinnen und Fachanwälten für Arbeitsrecht:
Veronica Bundschuh (Meisterernst/Düsing/Manstetten, Münster), Dr. Sandra Carlson (Manske & Partner, Nürnberg), Michael Fleischmann (Seebacher/Fleischmann/Müller, München), Jens Peter Hjort (Müller-Knapp/Hjort/Wulff, Hamburg), Dieter Hummel und  Nils Kummert (dka, Berlin), Heike Brodersen (Arbeitsrechtskanzlei Hamburg), Regina Steiner (Steiner/Mittländer/Fischer, Frankfurt).

Bei Presserückfragen wenden Sie sich an: Dr. Andreas Engelmann, Bundessekretär der VDJ, Tel.: 06971163438, E-Mail: bundessekretaer@vdj.de
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