„Sehenden Auges Richtung Verfassungsbeschwerde“ - Neues Versammlungsfreiheitsgesetz in Hessen schränkt Versammlungsfreiheit zu stark ein!
Pressemitteilung der Vereinigung Demokratischer Juristinnenund Juristen e.V. (VDJ) vom 23.03.2023
„Sehenden Auges Richtung Verfassungsbeschwerde“ - Neues Versammlungsfreiheitsgesetz in Hessen schränkt Versammlungsfreiheit zu stark ein!
Am 21. März 2023 hat der Hessische Landtag mit den Stimmen der Regierungskoalition aus CDU und Grünen ein Versammlungsfreiheitsgesetz beschlossen, das mit Verkündung in Kraft treten soll. Damit endet die Fortgeltung des Versammlungsgesetzes des Bundes, das in Hessen bisher weiterhin galt (Art. 125a Abs. 1 GG). Mag das Gesetz auch an einzelnen Stellen zu mehr Rechtssicherheit beitragen, so verspricht es doch – entgegen seinem Namen – nicht mehr Freiheit für Versammlungen in Hessen.
Die VDJ beobachtet mit Sorge, wie wenig Gehör bürgerrechtlichen Argumenten im Gesetzgebungsverfahren geschenkt wurde. Der Fokus auf bürokratische und obrigkeitsstaatliche Lösungen kommt in dem neuen Versammlungsgesetz – wie bereits in den Versammlungsgesetzen anderer Länder – deutlich zum Ausdruck. Wesentliche Kritikpunkte waren in den Sachverständigenanhörungen geäußert worden. Dazu zählen aus bürgerrechtlicher Sicht insbesondere die übersteigerten Anforderungen an die Anmeldung von Versammlungen, die Ermöglichung abschreckender Kontrollen im Vorfeld, die Auflösung der Polizeifestigkeit der Versammlung und ihre generelle staatliche „Umklammerung“ (Prof. Dr. Clemens Arzt), die Möglichkeiten von Videoaufnahmen mit ihrer bekannten Abschreckungswirkung, die Ausweitung polizeilicher Befugnisse (Ablehnung von Ordner*innen, Ausschluss von Teilnehmenden) und die Eingriffe in die Gestaltungsfreiheit der Versammlung durch das sog. Militanzverbot.
Den geäußerten Bedenken ist die Regierungskoalition nicht entgegengekommen, sondern hat den Entwurf unverändert verabschiedet. Das ist fragwürdig, weil einige Regelungen des neuen Gesetzes in ähnlicher Weise in anderen Landesversammlungsgesetzen stehen, deren Verfassungsmäßigkeit gerade noch vor den Gerichten geklärt wird. Im Sinne der Rechtsstaatlichkeit wäre es besser gewesen, diese Verfahren abzuwarten. Der hessischen Landesregierung schien aber mehr an einer schnellen Regelung als an grundrechtlicher Vorsicht gelegen.
„Bei Normen in neuen Gesetzen handelt es sich immer wieder um Pilotversuche, mit denen ausgetestet wird, welche Einschränkungen der Grundrechte die Gerichte mitgehen. So besteht die Gefahr, dass die Schutzstandards für Versammlungen abgesenkt werden. Dabei ist die Versammlungsfreiheit nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine der bedeutendsten Freiheiten des Grundgesetzes, weil sie die kollektive demokratische Willensäußerung zwischen den Wahlen sichert,“ erklärt Rechtsanwalt Kerth-Zelter, Ko-Vorsitzender der VDJ.
Unsere Ko-Vorsitzende, Rechtsanwältin Regina Steiner, ergänzt: „Es erfüllt uns mit Sorge, dass Gesetze auch in Ländern, in denen Parteien regieren, die sich als bürgerrechtlich empfinden, auf Regelungen zurückgreifen, die demokratische Rechte immer weiter einschränken und deren Vereinbarkeit mit der Verfassung höchst zweifelhaft ist. Eine demokratische Grundordnung heißt für uns Sensibilität hinsichtlich der Beschränkung von demokratischen Rechten und kollektiven Freiheiten. Wo diese Sensibilität gegenüber berechtigter Kritik fehlt, nimmt die Regierung sehenden Auges eine Klärung vor den Verfassungsgerichten in Kauf.“
Die VDJ fordert für Hessen, wie für alle anderen Bundesländer, Versammlungsgesetze, die die Freiheit der Versammlung und ihre Staatsferne schützen, sie gegen polizeiliche Eingriffe sichern und die Gestaltungsfreiheit bei den Demonstrierenden belassen.