VDJ Info 03/2019 vom 25.03.2019

Justizfarce im ÇHD-Verfahren in der Türkei: 18 Rechtsanwält*innen wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt

Das 37. Istanbuler Gericht für Schwere Straftaten verurteilte am 20.03.2019 am Gerichtsstandort Silivri 18 Rechtsanwält*innen, die Angehörige der Vereinigung Progressiver Juristinnen und Juristen (ÇHD) sind, zu Haftstrafen zwischen 3 Jahren und einem Monat und 18 Jahren und neun Monaten. Unter den Verurteilten ist auch der Hans-Litten-Preis-Träger Selçuk Kozağaçlı, der zu 11 Jahren und 3 Monaten verurteilt worden ist. Der Çağdaş Hukukçular Derneği (ÇHD) ist sowohl Mitglied in der Europäischen Vereinigung von Juristinnen und Juristen für Demokratie und Menschenrecht in der Welt (EJDM) als auch bei den Europäischen Demokratischen Rechtsanwälten (EDA)

Vorgeworfen wurde den Angeklagten - allein gestützt auf deren anwaltliche Tätigkeit - die als  terroristische Organisation gekennzeichnete DHKP-C zu unterstützen bzw. ihr als Mitglieder anzugehören.

Eine Vielzahl von juristischen Vereinigungen, die von Beginn an das Verfahren beobachtet haben - u. a die Internationale Vereinigung demokratischer Juristen (IADL), die Europäische Vereinigung demokratischer Rechtsanwälte (AED-EDL), die Europäische Vereinigung von Juristinnen und Juristen für Demokratie und Menschenrechte in der Welt (EJDM), Lawyers for Lawyers, Avocat sans Frontières - Avocats Solidaires (ASF AS), die Rechtsanwaltskammern aus Belgien, Frankreich und Norwegen, die italienischen demokratischen Juristinnennund Juristen und weitere italienische Vereinigungen - halten den Prozess für null und nichtig. Ihr Protest gegen die hohen Freiheitsstrafen ist verbunden mit der Forderung nach sofortigem Freispruch aller Angeklagten, der mit allen gerichtlichen und rechtlichen Möglichkeiten durchzusetzen ist.

eldh.eu/2019/03/21/18-turkish-lawyers-sentenced-to-long-prison-terms/

Gemeinnützigkeit von attac u. a. im Visier

In der Neuvermesssung des Radiusses der Gemeinnützigkeit hat der Bundesfinanzhof in seinem Urteil vom 10.01.2019 trickreich den Begriff der politischen Bldung neutralisiert, indem er politische Bildung, die politische Willensbildung fördert und mit Handlungsoptionen verbunden ist, als nicht mehr förderbar i. S. § 52 II Nr. 7 AO ansieht.

https://juris.bundesfinanzhof.de/cgi-bin/rechtsprechung/druckvorschau.py?Gericht=bfh&Art=en&nr=39534

In einer Stellungnahme unterstreicht attac die verheerenden Folgen der Entscheidung für andere Organisationen der Zivilgesellschaft, die Politik begleiten, kritisieren und Alternativen vorschlagen und hält angesichts der einengenden Vorgaben des BFH, dass das Verfahren zur abschließenden Entscheidung wieder an das Hessische Finanzgericht zurückverwiesen hat, dringend eine Gesetzesänderung für notwendig: "Nur eine aktive Zivilgesellschaft kann Transparenz von der Politik einfordern, kann Lobbymacht öffentlich machen, kann Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger am politischen Geschehen gewährleisten."

www.attac.de/kampagnen/jetzt-erst-recht/jetzt-erst-recht/

Ebenso hat die Allianz Rechtssicherheit für politische Willensbildung die Bedeutung politscher Willenbildung als allgemeinen Nutzen in einer Stellungnahme betont: "Politisch aktive Organisationen für die Gesellschaft unverzichtbare Funktio­nen übernehmen: Sie sind Anwalt für gesellschaft­liche Themen, sorgen für deren brei­te Erörterung in Medien und Gesellschaft. Sie dienen so der politischen Willensbildung. Sie decken Missstände auf. Sie bieten Dienstleistungen an, organisieren Selbsthilfe und Solidarität und sie treten als Mitt­ler auf zwischen Bürgerinnen/Bürgern und Politikerinnen/Politikern."

https://www.zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de/das-problem/

Weitere Texte und Hintergrundmaterial zur Gemeinnützigkeit:

http://www.labournet.de/politik/wipo/finanzmaerkte/steuerpolitik/gemeinnuetzigkeit/

Dublin VO: EuGH hält bei Unzuständigkeit Abschiebung für zulässig trotz Mängeln im Sozialsystem

In diversen Verfahren von Vorabentscheidungsersuchen, in denen es jeweils u. a. um die Folgen bei Unzuständigkeit im Rahmen der Dublin-Verordnung ging, hat der EuGH entschieden, dass Flüchtlinge aus der Bundesrepublik Deutschland in einen anderen EU-Staat, der für ihr Verfahren nach der Dublin-VO zuständig bzw. in dem bereits subsidiärer Schutz gewährt worden ist, auch dann abgeschoben werden dürfen, wenn es systemische Mängel gibt, die unterhalb der Schwelle einer extrem existenzbedrohenden Lage bleiben, die mit der Menschenwürde unvereinbar wären.

https://rsw.beck.de/aktuell/meldung/eugh-rueckueberstellung-von-asylbewerbern-in-zustaendigen-eu-staat-nur-bei-gefahr-extremer-materieller-not-gehindert

Mietpreisregulierung durch die Länder möglich?

Nach einem für die SPD-Fraktion in Berlin erstellten Gutachten der Bielefelder Hochschullehrer Franz Mayer und Markus Artz ergeben sich für den Landesgesetzgeber bei der Einführung eines sog. "Mietendeckels" keine Hindernisse aus der konkurierenden Gesetzgebung. Mietpreisrecht werde nicht ausschließlich durch das Privatrecht geregelt. Es lasse sich eine gesonderte Regulierungsschicht an Öffentlichem Mietrecht beschreiben. Zur Sicherung des landesverfassungsrechtlich verbürgten Rechts auf Wohnen sei es verhältnismäßig, Vermietern zeitlich befristet durch Landesrecht zu untersagen, bestimmte Ansprüche aus dem Miethöherecht des BGB geltend machen zu dürfen. Sinnvoll und angemessen erscheine ein öffentlich-rechtliches Eingreifen sowohl hinsichtlich der zulässigen Miethöhe bei Beginn des Mietverhältnisses als auch bei der Mieterhöhung im Bestand.

www.berliner-zeitung.de/berlin/bezahlbares-wohnen-spd-fordert-mietendeckel-32240744

Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags kommt allerdings in seiner Ausarbeitung zu einem gegenteiligen Ergebnis und sieht enge Grenzen für eine gesetzliche Mietpreisbindung, nämlich lediglich soweit das Wohnungswesen als Bereich dem öffentllchen Recht zugeordnet ist. Um nicht Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG zu unterfallen, müsste das Gesetz schwerpunktmäßig einen öffentlich-rechtlichen Regleungsgegenstand betreffen.

www.bundestag.de/resource/blob/592066/8b7eb775f6ba83dc7c1e9feff784cd2d/WD-3-029-19-pdf-data.pdf

VDJ-Gründungsmitglied Dr. Erwin Siemantel gestorben

Dr. Erwin Siemantel - Gründungs- und langjähriges Bundevorstandsmitglied - ist am 03. März 2019 im Alter von 88 Jahren verstorben. Er war nicht nur Mitgründer der Vereinigung, sondern auch einer ihrer Architekten, der über viele Jahre an den Debatten um Kurs und Weg der VDJ beteiligt war.

Siemantels lebenslange rechtspolitische Leidenschaft war der Streit um die Demokratie. Dass er so tief in Demokratiefragen hineingeriet, war für ihn als bekennenden Radikalen im besten Sinne unvermeidlich und hatte zutiefst mit der Verfassheit der Bundesrepublik Deutschland zu tun. Das KPD-Verbot, die politischen Gesinnungsprozesse in den kalten Kriegsgräben und die Berufsverbote waren die Bruchstellen im Verfassungsgefüge, die maßgeblich seine anwaltliche Praxis bestimmten. Insbesondere im Kampf gegen die Berufsverbote, mit denen der Rechtsstaat unter Aufgabe seiner Prinzipien andere politische Gesinnung diskriminierte, hat Erwin Siemantel einen großen beruflichen und rechtspolitischen Anteil und Verdienst, in dem er unspektakulär, aber mit großer Nachhaltigkeit gewirkt hat (Hrsg. Klaus Dammann/ Erwin Siemantel, Berufsverbote und Menschenrechte in der Bundesrepublik). Siemantel war auch einer der Mitherausgeber der früheren Zeitschrift Demokratie und Recht.

Die VDJ hatte gute Gründe Erwin Siemantel gemeinsam mit Hemann Klenner den Hans-Litten-Preis 1998 für sein berufliches Wirken und rechtspolitsches Engagement zu verleihen.

https://www.vdj.de/mitteilungen/nachrichten/nachricht/laudatio-an-hermann-klenner-und-erwin-siemantel-7/5e38a0d94a05c2078d06a087c200adfe/

Die VDJ hat einen Kollegen mit Haltung, die auch immer kritische Reflexion einschloss, und für viele Vorbild war, verloren.

Neuerscheinung: Versammlungsfreiheit - ein Praxisleitfaden

Jasper Prigge, Rechtsanwalt in Düsseldorf und Mitglied der VDJ, hat einen Praxisleitfaden zur Versammlungsfreiheit geschrieben, der jüngst im Felix Halle Verlag erschienen ist.

Bibliographische Daten: Versammlungsfreiheit - ein Praxisleitfaden, ISBN 9783964434197, 172 S., Preis: € 14,90.

Eine Kurzbesprechung folgt im nächsten VDJ Info.

Termine - Veranstaltungen

• Berlin: Symposium "Die unvollendete Revolution" am 29.03., 19.00 Uhr / 30.03.2019, 10.30 Uhr im Großen Saal des IG Metall-Hauses Berlin, Alte Jakobstraße 149, 10969 Berlin-Kreuzberg. Veranstalter: Koordination "Unvollendete Revolution 1918". Programm, Ablauf, Anmeldeformalitäten: http://1918unvollendet.blogsport.eu/files/2019/02/fb_symposium_unv_rev_2019_10s_web.pdf

• Frankfurt/ M.: Der Arbeitskreis Arbeitsrecht trifft sich am 06.04.2019 von 10.30 Uhr bis 16.00 Uhr, in der IG Metall Vorstandsverwaltung (Main-Forum). Themen werden sein: 1. Aktuelle Entwicklungen im Europäischen Arbeitsrecht, insbesondere im Urlaubsrecht, im Arbeitszeitrecht und zum Arbeitnehmerbegriff und 2. Das neue Datenschutzrecht und die Auswirkungen auf die Betriebsratsarbeit: https://www.vdj.de/aktivitaeten/termine/termine/ak-arbeitsrecht-fruehjahrstagung-am-sa-06042019-in-frankfurt-m/

• Koblenz: Informations- und Diskussionsveranstaltung "Vom Atomwaffenlager in den Gerichtssaal - Ziviler Ungehorsam gegen Atomwaffen vor Gericht", veranstaltet von IALANA am 09.04.2019, 19.00 bis 21.30 Uhr im Café Atempause in der Christuskirche mit Prof. Dr. Norman Paech, Gerhard Baisch, Bernd Hahnfeld und David Haase, Moderation: Katja Tempel: https://www.ialana.info/?na=v&nk=2729-c224f3a328&id=39

• Darmstadt: Informations- und Diskussionsveranstaltung "Aggressive Polizeigesetze und Rechtsstaatlichkeit" am 17.04,2019, 19.30 Uhr im TIZ Darmstadt, Robert Bosch-Str. 7 mit Rechtsanwalt Jasper Prigge aus Düsseldorf. Veranstalter: Bündnis Demokratie statt Überwachung in Kooperation mit der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen

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