VDJ Info 07/2020 vom 28.04.2020

VDJ: Demokratie- und Grundrechteabbau in der Corona-Krise beenden! Verfassungskonformer Gesundheitsschutz muss differenziert und gefahrenbezogen vorgehen

In einem Debattenbeitrag vom 22.04.2020 plädiert die VDJ für einen differenzierten und gefahrenbezogenen Gesundheitsschutz und unterstreicht, dass es hierbei der Berücksichtigung aller grundrechtlich geschützten Güter und Interessen als Folge einer vielseitigen Gefahrenanalyse bedarf und darum gehen muss, widerstreitenden Grundrechtspositionen „optimale Geltung“ zu verschaffen.

Freiheitsbeschränkenden Maßnahmen müssen nachvollziehbare und konkrete Gefahrenprognosen zugrunde gelegt werden, die einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich sind. Der gesamte Abwägungsprozess ist offenzulegen und damit einer gesellschaftlichen Debatte zugänglich zu machen. Wenn dies nicht geschieht, sind Ausgangs- und Kontaktsperren unzulässig. Eine gerichtliche Kontrolle kann nicht allein darauf abstellen, dass Leben und Gesundheit grundsätzlich höher stehen als andere Grundrechte.

Maßnahmen müssen außerdem dem Menschenbild des Grundgesetzes entsprechen: Es muss um kollektive Regeln des Zusammenlebens für verantwortungsbewusste und eigenverantwortliche Menschen gehen. Dabei ist die verfassungsmäßige Gewaltenteilung zu beachten: Statt der Exekutive weitere Spielräume zu eröffnen, muss eine vielstimmige, parlamentarische und außerparlamentarische Auseinandersetzung und Kontrolle stattfinden.

HU: Grundrechte gehören nicht in Quarantäne

Die Humanistische Union unterstreicht in ihrer Erklärumg vom 20.04.2020, dass Grundrechtseinschränkungen transparente und demokratische politische Entscheidungen zugrunde liegen müssen, um die notwendige Akzeptanz einschneidender Maßnahmen weiter zu gewährleisten. Der fast vollständige Übergang der Entscheidungsgewalt an die Exekutive des Staates in Bund und Ländern ohne parlamentarische Mitwirkung sei erschreckend. Es sei unerlässlich, dass ausschließlich demokratische Institutionen über derartige Maßnahmen entscheiden – und nur im Rahmen der ihnen vom Grundgesetz verliehenen Kompetenzen. Das gelte sowohl für die klassischen drei Gewalten als auch für die föderalen Strukturen. Politische Entscheidungen müssen transparent vorbereitet und getroffen werden; wissenschaftliche Erkenntnisse sind dafür die Grundlage, dürfen aber die Entscheidungen nicht determinieren.

AsJ NRW: Für einen starken Rechtsstaat in der Corona-Krise

In ihrem rechtspolitischen Positionspapier vom 17.04.2020 betont die AsJ NRW insbesondere das Erfordernis einer intensiven Diskussion über rechtsstaatliche Erfordernisse und Begrenzungen der Maßnahmen zur Eindämmung des Virus. Der Rechtsstaat sei kein „Schönwetter-Luxus“,sondern gerade in der Krise ein notwendiger Garant von Freiheit und gleichzeitig ein geeignetes Instrument, Akzeptanz und Befolgung der notwendigen Maßnahmen effektiv und dauerhaft zu fördern. Deshalb bestehe in der Krise sogar ein erhöhtes Bedürfnis nach deutlichen Entscheidungszuständigkeiten, Normenklarheit, der Beachtung von Grundrechten und dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Hierbei seien alle grundrechtlich geschützten Rechtsgüter ernst zu nehmen. Es sei nicht akzeptabel, dass einzelne Rechte beinahe vollständig suspendiert werden. Das betreffe ganz besonders das Versammlungsrecht und Versammlungen, die sich gegen die (oder einen Teil der) derzeit angeordneten Maßnahmen richten. Es müsse deshalb unbedingt sichergestellt werden, dass - unter bestimmten Auflagen, die das Infektionsrisiko minimieren, etwa der Vorgabe eines Mindestabstands - politische Demonstrationen auch weiterhin möglich sind.

Grundrechtekomitee: Pandemie versus Demokratie - oder: die Einübung in den Ausnahmestaat

In seinem Betrag greift Dirk Vogelskamp in "Notstandszeiten" insbesondere die  gesellschaftliche Ausschließung und Ausgrenzung u. a. von Flüchtlingen und "weitere gewöhnlich an den Rand der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit gedrängte Bevölkerungsgruppen" auf und thematisiert die "massive Verschiebung der politsche Machtordnung". Außerparlamentarische Proteste, die ein Korrektiv sein könnten, würden nahezu verunmöglicht.

Aus demokratischer Perspektive müssten die Maßnahmen zeitlich begrenzt, verfassungsrechtlich überprüft und spätestens in Post-Corona-Zeiten vollständig zurückgenommen werden. Darauf werde argusäugig zu achten sein. Rechtsnormen würden  in innergesellschaftlichen Krisen dauernd den herrschenden Verhältnissen angepasst. Insofern sei der Ausnahmezustand immer schon Teil des Normalzustands.

Arbeitsrechtler/innen u. a. zum Referentenentwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit während der COVID 19-Epidemie

Der Arbeitskreis Arbeitsrecht der VDJ und weitere Fachanwält*innen für Arbeits- und Sozialrecht wenden sich energisch gegen die beabsichtigten Änderungen insbesondere im Prozessrecht wie sie der Referentenentwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit während der COVID 19-Epidemie vorsieht. Sie betonen insbesondere die Bedeutung des Grundsatzes der Öffentlichkeit für eine demokratische Rechtspflege und verweisen darauf, dass dieser Grundsatz prominent in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention und in Art. 14 Abs. 1 Satz 3 des UN-Zivilpakts verankert ist und wegen des Vorrangs  einer einfachgesetzlichen partiellen Aufhebung entgegensteht.

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Anm.: Zwischenzeitlich sind Änderungen an der Formulierungshilfe für die Koalitionsfraktionen zum Gesetzentwurf vorgenommen worden, die die Öffentlichkeit der Verhandlung betreffen.

Erklärung europäischer Jurist*innen zum 1. Mai: Anti-Covid-19-Politik bedroht Arbeitnehmerrechte

Europäische Vereinigung von Juristinnen und Juristen für Demokratie und Menschenwürde in der Welt und das Netzwerk von Europäischen Arbeitsrechtsanwält*innen greifen die dramatischen Folgen der Covid-19-Pandemiepolitik der europäischen Regierungen für Arbeitnehmer*innen, Selbständige und Kleinunternehmen auf, die mit gravierenden Verstößen gegen Europäische Menschenrechtskonvention verbunden sind unddazu geführt haben, dass mehrere osteuropäische Staaten ihre Absicht mitgeteilt haben, von den Bestimmungen der EMRK abzuweichen.

Darüber hinaus gibt es auch in den Mitgliedsstaaten der EU Verstöße gegen die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Recht auf Unversehrtheit der Person, Verbot der Zwangsarbeit, Recht auf Freiheit und Sicherheit, Schutz personenbezogener Daten, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer*innen im Unternehmen, Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen, Gesundheitsschutz).

Mit einem arbeits- und sozialrechtlichen Forderungspaket appellieren die Europäischen Jurist*innen an die Mitgliedstaaten u. a. eine Verschlechterung der arbeits- und sozialrechtlichen Standards zu unterlassen bzw. zuückzunehmen, die bestehenden Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften in vollem Umfang anzuwenden, Wirtschaftshilfe an Unternehmen davon abhängig zu machen, dass Arbeitsplätze und andere soziale Standards erhalten bleiben sowie dass Dividendenausschüttungen und Bonuszahlungen unterbleiben und das Gesundheitssystem durch den Wiederaufbau eines angemessenen öffentlichen Gesundheitsschutzes zu stärken.

Rechtsprechung zum Versammlungsrecht unter Corona

• VGH München, Beschluss vom 09.04.2020 - 20 CE 20.755  Ausnahmegenehmigung zur Versammlung und Auflagen zur Vermeidung einer Infektionsgefahr. Das Gericht hat die Versammlungsbehörde verpflichtet, neu über eine Ausnahmegenehmigung nach § 1 Abs. 1 S. 3 Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (BayIfSMV) unter Beachtung der Rechtsauffassung des VGH zu entscheiden. Moniert hat das Gericht insbesondere, dass bei der Versagung der Ausnahmegenehmigung nicht auf ein (infektionsschutzrechtlich bedenkliches) Verhalten der Versammlungsteilnehmer, sondern ausschließlich auf das Verhalten Dritter und auf infektionsschutzrechtliche Gefahren abgestellt worden sei, die sich aus - während der Geltungsdauer der BayIfSMV - verbotenen Verhaltensweisen ergeben könnten (vgl. § 4 Abs. 2, 3 Nr. 7 BayIfSMV). Zugunsten des Antragstellers sei im Lichte des Art. 8 Abs. 1 GG maßgeblich zu berücksichtigen, dass er die erstrebte Versammlung mit der beabsichtigten Meinungsäußerung in sinnvoller Weise nur während der Geltungsdauer der BayIfSMV durchführen könne.

• BVerfG, Beschluss vom 15.04.2020 - 1 BvR 828/20: Antrag auf Erlass einer Einstweiligen Anordnung gegen Versammlungsverbot teilweise erfolgreich. Die Versammlungsbehörde hatte unzutreffend angenommen, die Verordnung der Hessischen Landesregierung zur Bekämpfung des Corona-Virus enthalte ein generelles Verbot von Versammlungen von mehr als zwei Personen, die nicht dem gleichen Hausstand angehören und daher die grundrechtlich geschützte Versammlungsfreiheit verletzt, weil sie nicht beachtet hat, dass zu deren Schutz ein Entscheidungsspielraum bestand.

• VG Hamburg, Beschluss vom 17.04.2020 - 15 E 1640/20

Die für den 18.04.2020 auf dem Johannes-Brahms-Platz in Hamburg geplante Versammlung „Pandemieschutz bleibt antirassistisch“ darf unter Auflagen stattfinden. Eine entsprechende Beschränkung der Versammlung führt nach Auffassung des Gerichts noch nicht zu einer nicht hinnehmbaren und über das allgemein bestehende Infektionsrisiko hinausgehenden Infektionsgefahr für die Versammlungsteilnehmer oder sonstige Personen. Im Einzelnen hat die Antragstellerin daher u.a. die Zahl der Versammlungsteilnehmer auf 20 Personen zuzüglich 5 Ordnern und die Dauer der Versammlung auf maximal 2 Stunden zu beschränken, Passanten sind von der Versammlung durch entsprechende Vorrichtungen zu trennen und die Versammlungsteilnehmer haben während der Versammlung voneinander einen Abstand von jeweils 2 Metern zu halten.

• VG Münster, Beschluss vom 25.04.2020 - 5 L 361/20 (nicht rechtskräftig)

Im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtete das Gericht die Stadt Münster, die beantragte Ausnahmebewilligung unter anderem mit den Maßgaben zu erteilen, dass die Teilnehmerzahl auf 35 Personen begrenzt wird, ein Umzug nicht stattfindet, Flugblätter oder sonstige Materialien nicht verteilt werden, die Teilnehmer einen Mindestabstand von 1,5 m zueinander einzuhalten und einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen haben und Personen, die eine Corona-Symptomatik aufweisen, nicht teilnehmen dürfen.

Deutsches Menschenrechtsinstitut: Nach den Morden in Hanau

Die rassistischen und antisemitischen Anschläge in Halle und Hanau sowie die Aufdeckung rechtsextremer und rechtsterroristischer Gruppierungen und Netzwerke, in die auch Beamte aus Sicherheitsbehörden involviert sind, haben die Bedrohung durch Rassismus und Rechtsextremismus ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Von Rassismus und Antisemitismus Betroffene stellen mit hoher Dringlichkeit die Frage, ob sie in Deutschland vor Gewalt, Übergriffen und Hetze geschützt sind, und fordern ein grundsätzliches Umdenken und die Sicherstellung ihrer Repräsentation und Beteiligung in Staat und Gesellschaft. Das Institut zeigt mit seiner Stellungnahme die aus menschenrechtlicher Perspektive bestehenden Handlungsbedarfe auf und skizziert Handlungsempfehlungen für den Schutz vor rassistischer, antisemitischer und rechtsextremer Gewalt und deren wirksame Strafverfolgung.

VDJ zum Wechselmodell im Umgangsrecht

Gegen die Einführung des sog. "Wechselmodells" als Regelfall für das elterliche Umgangsrecht erhebt die VDJ erhebliche Bedenken. In einer Stellungnahme unterstreicht die Vereinigung, dass belastbare emprische Daten zu den Folgen des Wechselmodells bisher nicht vorliegen und die Rechte des Kindes auf Mitbestimmung nur rudimentär vorhanden sind. Um diese Rechte zu stärken, bedarf es der verfahrensrechtlichen Absicherung durch eigene Antragsrechte. Ebenso ist eine ausreichende finanzielle Absicherung des Kindes erforderlich, was eine Erhöhung des Kindesunterhalts und der ergänzenden Sozialleistungen im Bereich des Unterhaltsvorschusses und des Arbeitslosengeld-II-Anspruchs voraussetzt. Darüber hinaus ist das Kind umfassend in seinen verfahrensrechtlichen und grundrechtlichen Rechtspositionen zu stärken. Nur über die Einführung der Kinderrechte im Grundgesetz werden sie im Konfliktfall geschützt. Bewertungsmaßstab für die Kinderrechte gegenüber den Elternrechten ist das Kindeswohl.

Lesenswertes: "Gedanken und Thesen zum Corona-Ausnahmezustand" von Rolf Gössner

In Zeiten dirigistischer staatlicher Zwangsmaßnahmen,  allgemeiner Angst, Unsicherheit und Anpassung in Folge des Corona-Virus ist kritischer Impetus, was insbesondere die Verhältnismäßigkeit und Verfassungsmäßigkeit betrifft, ein Gebot politischer Hygiene, gerade auch dann, wenn die einschneidenden Maßnahmen "letztlich auf Basis einer ungesicherten wissenschaftlichen Datenlage verhängt worden sind".

Das breit aufgefächerten Themenfeld, das Rolf Gössner in 15 Thesen zum Corona-Ausnahmezustand aufmacht, will "dazu beitragen, die komplexe und unübersichtliche Problematik einigermaßen in den Griff zu bekommen und bürgerrechtliche Orientierung zu bieten für eine offene und kontroverse Debatte."

Termine - Veranstaltungen

Alle Termine für Fortbildungsveranstaltungen der VDJ im Frühjahr 2020 sind aufgehoben worden. Sobald neue Termine feststehen, werden sie auf der Webseite der VDJ und im Newsletter bekannt gegeben.

Das Allerletzte

In Vorbereitung der Innenausschusssitzung im Landtag NRW am 23.04.2020 legte der Innenminister Reul auf Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen einen Bericht zu „Versammlungen in NRW während der CoViD-19-Pandemie" vor, in dem u. a. zum Demonstrationsgeschehen und speziellen Vorgaben Stellung genommen worden ist und der Minister in buchenswerter Verfassungsferne resümierte:

“(...)In dieser Situation hätte ich keinerlei Verständnis dafür, dass ausgerechnet Versammlungen und Demonstrationen stattfinden dürften. Versammlungen stellen nicht nur ein gravierendes Infektionsrisiko dar - Ansammlungen mit mehr als zwei Personen in der Öffentlichkeit sind strafbewehrt verboten. Es gibt auch keinen Grund zu einer entsprechenden verfassungsrechtlichen oder rechtspolitischen Privilegierung der Grundrechtsausübung nach Artikel 8 des Grundgesetzes, zumal ich mich mit vielen anderen in der Meinung einig weiß, dass deren teils doch recht einseitig anmutende staatspraktische Bevorzugung in der Folge des Brokdorf-Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vielleicht auch in anderen Zusammenhängen einmal auf den Prüfstand gestellt werden sollte.”

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